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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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und Thiere, für gewisse Menschen und Ge¬
genden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte
er eine entschiedene Neigung, die selten er¬
klärlich war. Wenn ich nicht, pflegte er oft
zu sagen, mir von Jugend auf so sehr wi¬
derstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt
hätte, meinen Verstand ins Weite und All¬
gemeine auszubilden, so wäre ich der be¬
schränkteste und unerträglichste Mensch ge¬
worden, denn nichts ist unerträglicher als
abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von
dem man eine reine, gehörige Thätigkeit
fordern kann. Und doch mußte er selbst ge¬
stehen, daß ihm gleichsam Leben und Athem
ausgehen würde, wenn er sich nicht von
Zeit zu Zeit nachsähe, und sich erlaubte,
das mit Leidenschaft zu genießen, was er
eben nicht immer loben und entschuldigen
konnte. Es ist meine Schuld nicht, sagte
er, wenn ich meine Triebe und meine Ver¬

W. Meisters Lehrj. 4. X

und Thiere, für gewiſſe Menſchen und Ge¬
genden, ja ſogar zu einigen Steinarten hatte
er eine entſchiedene Neigung, die ſelten er¬
klärlich war. Wenn ich nicht, pflegte er oft
zu ſagen, mir von Jugend auf ſo ſehr wi¬
derſtanden hätte, wenn ich nicht geſtrebt
hätte, meinen Verſtand ins Weite und All¬
gemeine auszubilden, ſo wäre ich der be¬
ſchränkteſte und unerträglichſte Menſch ge¬
worden, denn nichts iſt unerträglicher als
abgeſchnittene Eigenheit an demjenigen, von
dem man eine reine, gehörige Thätigkeit
fordern kann. Und doch mußte er ſelbſt ge¬
ſtehen, daß ihm gleichſam Leben und Athem
ausgehen würde, wenn er ſich nicht von
Zeit zu Zeit nachſähe, und ſich erlaubte,
das mit Leidenſchaft zu genießen, was er
eben nicht immer loben und entſchuldigen
konnte. Es iſt meine Schuld nicht, ſagte
er, wenn ich meine Triebe und meine Ver¬

W. Meiſters Lehrj. 4. X
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[321/0325] und Thiere, für gewiſſe Menſchen und Ge¬ genden, ja ſogar zu einigen Steinarten hatte er eine entſchiedene Neigung, die ſelten er¬ klärlich war. Wenn ich nicht, pflegte er oft zu ſagen, mir von Jugend auf ſo ſehr wi¬ derſtanden hätte, wenn ich nicht geſtrebt hätte, meinen Verſtand ins Weite und All¬ gemeine auszubilden, ſo wäre ich der be¬ ſchränkteſte und unerträglichſte Menſch ge¬ worden, denn nichts iſt unerträglicher als abgeſchnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehörige Thätigkeit fordern kann. Und doch mußte er ſelbſt ge¬ ſtehen, daß ihm gleichſam Leben und Athem ausgehen würde, wenn er ſich nicht von Zeit zu Zeit nachſähe, und ſich erlaubte, das mit Leidenſchaft zu genießen, was er eben nicht immer loben und entſchuldigen konnte. Es iſt meine Schuld nicht, ſagte er, wenn ich meine Triebe und meine Ver¬ W. Meiſters Lehrj. 4. X

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/325>, abgerufen am 22.11.2024.