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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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nunft nicht völlig habe in Einstimmung brin¬
gen können. Bey solchen Gelegenheiten
pflegte er meist über mich zu scherzen und
zu sagen: Natalien kann man bey Leibes¬
leben selig preisen, da ihre Natur nichts
fordert, als was die Welt wünscht und
braucht.

Unter diesen Worten waren sie wieder
in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte
ihn durch einen geräumigen Gang auf eine
Thüre zu, vor der zwey Sphinxe von Gra¬
nit lagen. Die Thüre selbst war, auf Ägyp¬
tische Weise, oben ein wenig enger als un¬
ten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu
einem ernsthaften, ja zu einem schauerlichen
Anblick vor; wie angenehm ward man da¬
her überrascht, als diese Erwartung sich in
die reinste Heiterkeit auflöste, indem man
in einen Saal trat, in welchem Kunst und
Leben jede Erinnerung an Tod und Grab

nunft nicht völlig habe in Einſtimmung brin¬
gen können. Bey ſolchen Gelegenheiten
pflegte er meiſt über mich zu ſcherzen und
zu ſagen: Natalien kann man bey Leibes¬
leben ſelig preiſen, da ihre Natur nichts
fordert, als was die Welt wünſcht und
braucht.

Unter dieſen Worten waren ſie wieder
in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte
ihn durch einen geräumigen Gang auf eine
Thüre zu, vor der zwey Sphinxe von Gra¬
nit lagen. Die Thüre ſelbſt war, auf Ägyp¬
tiſche Weiſe, oben ein wenig enger als un¬
ten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu
einem ernſthaften, ja zu einem ſchauerlichen
Anblick vor; wie angenehm ward man da¬
her überraſcht, als dieſe Erwartung ſich in
die reinſte Heiterkeit auflöſte, indem man
in einen Saal trat, in welchem Kunſt und
Leben jede Erinnerung an Tod und Grab

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[322/0326] nunft nicht völlig habe in Einſtimmung brin¬ gen können. Bey ſolchen Gelegenheiten pflegte er meiſt über mich zu ſcherzen und zu ſagen: Natalien kann man bey Leibes¬ leben ſelig preiſen, da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünſcht und braucht. Unter dieſen Worten waren ſie wieder in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte ihn durch einen geräumigen Gang auf eine Thüre zu, vor der zwey Sphinxe von Gra¬ nit lagen. Die Thüre ſelbſt war, auf Ägyp¬ tiſche Weiſe, oben ein wenig enger als un¬ ten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu einem ernſthaften, ja zu einem ſchauerlichen Anblick vor; wie angenehm ward man da¬ her überraſcht, als dieſe Erwartung ſich in die reinſte Heiterkeit auflöſte, indem man in einen Saal trat, in welchem Kunſt und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/326>, abgerufen am 22.11.2024.