Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeiten die Braut sitzen, und bey ihren stil¬
len Wünschen noch bedürfen, daß man sie
tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig
wird der Bräutigam auf der Schwelle hor¬
chen, ob er hereintreten darf.

Wilhelms Augen schweiften auf unzäh¬
lige Bilder umher. Vom ersten frohen
Triebe der Kindheit jedes Glied im Spiele
nur zu brauchen und zu üben, bis zum ru¬
higen abgeschiedenen Ernste des Weisen,
konnte man, in schöner lebendigen Folge,
sehen wie der Mensch keine angebohrne Nei¬
gung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brau¬
chen und zu nutzen. Von dem ersten zarten
Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt
den Krug aus dem klaren Wasser wieder
herauf zu heben, und indessen ihr Bild ge¬
fällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feyer¬
lichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeu¬
gen ihrer Verbindungen die Götter am Al¬
tare anrufen.

Zeiten die Braut ſitzen, und bey ihren ſtil¬
len Wünſchen noch bedürfen, daß man ſie
tröſte, daß man ihr zurede; ſo ungeduldig
wird der Bräutigam auf der Schwelle hor¬
chen, ob er hereintreten darf.

Wilhelms Augen ſchweiften auf unzäh¬
lige Bilder umher. Vom erſten frohen
Triebe der Kindheit jedes Glied im Spiele
nur zu brauchen und zu üben, bis zum ru¬
higen abgeſchiedenen Ernſte des Weiſen,
konnte man, in ſchöner lebendigen Folge,
ſehen wie der Menſch keine angebohrne Nei¬
gung und Fähigkeit beſitzt, ohne ſie zu brau¬
chen und zu nutzen. Von dem erſten zarten
Selbſtgefühl, wenn das Mädchen verweilt
den Krug aus dem klaren Waſſer wieder
herauf zu heben, und indeſſen ihr Bild ge¬
fällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feyer¬
lichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeu¬
gen ihrer Verbindungen die Götter am Al¬
tare anrufen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0330" n="326"/>
Zeiten die Braut &#x017F;itzen, und bey ihren &#x017F;til¬<lb/>
len Wün&#x017F;chen noch bedürfen, daß man &#x017F;ie<lb/>
trö&#x017F;te, daß man ihr zurede; &#x017F;o ungeduldig<lb/>
wird der Bräutigam auf der Schwelle hor¬<lb/>
chen, ob er hereintreten darf.</p><lb/>
            <p>Wilhelms Augen &#x017F;chweiften auf unzäh¬<lb/>
lige Bilder umher. Vom er&#x017F;ten frohen<lb/>
Triebe der Kindheit jedes Glied im Spiele<lb/>
nur zu brauchen und zu üben, bis zum ru¬<lb/>
higen abge&#x017F;chiedenen Ern&#x017F;te des Wei&#x017F;en,<lb/>
konnte man, in &#x017F;chöner lebendigen Folge,<lb/>
&#x017F;ehen wie der Men&#x017F;ch keine angebohrne Nei¬<lb/>
gung und Fähigkeit be&#x017F;itzt, ohne &#x017F;ie zu brau¬<lb/>
chen und zu nutzen. Von dem er&#x017F;ten zarten<lb/>
Selb&#x017F;tgefühl, wenn das Mädchen verweilt<lb/>
den Krug aus dem klaren Wa&#x017F;&#x017F;er wieder<lb/>
herauf zu heben, und inde&#x017F;&#x017F;en ihr Bild ge¬<lb/>
fällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feyer¬<lb/>
lichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeu¬<lb/>
gen ihrer Verbindungen die Götter am Al¬<lb/>
tare anrufen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[326/0330] Zeiten die Braut ſitzen, und bey ihren ſtil¬ len Wünſchen noch bedürfen, daß man ſie tröſte, daß man ihr zurede; ſo ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle hor¬ chen, ob er hereintreten darf. Wilhelms Augen ſchweiften auf unzäh¬ lige Bilder umher. Vom erſten frohen Triebe der Kindheit jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ru¬ higen abgeſchiedenen Ernſte des Weiſen, konnte man, in ſchöner lebendigen Folge, ſehen wie der Menſch keine angebohrne Nei¬ gung und Fähigkeit beſitzt, ohne ſie zu brau¬ chen und zu nutzen. Von dem erſten zarten Selbſtgefühl, wenn das Mädchen verweilt den Krug aus dem klaren Waſſer wieder herauf zu heben, und indeſſen ihr Bild ge¬ fällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feyer¬ lichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeu¬ gen ihrer Verbindungen die Götter am Al¬ tare anrufen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/330
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/330>, abgerufen am 22.11.2024.