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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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ihn als Subject betrachtet, verschiedene Prä¬
dicate finden könnte.

Ich muß aufrichtig gestehen, versetzte Na¬
talie, es ist ein gefährlicher Versuch, sich ein
Mädchen zuzueignen, in dem Augenblicke,
da sie aus Liebe zu einem andern verzweifelt.

Ich habe es gewagt, versetzte Jarno, sie
wird unter einer gewissen Bedingung mein.
Und, glauben Sie mir, es ist in der Welt
nichts schätzbarer als ein Herz, das der Liebe
und der Leidenschaft fähig ist. Ob es ge¬
liebt habe? ob es noch liebe? Darauf kommt
es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer
geliebt wird, ist mir beynah reizender als
die, mit der ich geliebt werden könnte; ich
sehe die Kraft, die Gewalt eines schönen
Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den
reinen Anblick trübt.

Haben Sie Lydien in diesen Tagen schon
gesprochen? versetzte Natalie.

ihn als Subject betrachtet, verſchiedene Prä¬
dicate finden könnte.

Ich muß aufrichtig geſtehen, verſetzte Na¬
talie, es iſt ein gefährlicher Verſuch, ſich ein
Mädchen zuzueignen, in dem Augenblicke,
da ſie aus Liebe zu einem andern verzweifelt.

Ich habe es gewagt, verſetzte Jarno, ſie
wird unter einer gewiſſen Bedingung mein.
Und, glauben Sie mir, es iſt in der Welt
nichts ſchätzbarer als ein Herz, das der Liebe
und der Leidenſchaft fähig iſt. Ob es ge¬
liebt habe? ob es noch liebe? Darauf kommt
es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer
geliebt wird, iſt mir beynah reizender als
die, mit der ich geliebt werden könnte; ich
ſehe die Kraft, die Gewalt eines ſchönen
Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den
reinen Anblick trübt.

Haben Sie Lydien in dieſen Tagen ſchon
geſprochen? verſetzte Natalie.

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[391/0395] ihn als Subject betrachtet, verſchiedene Prä¬ dicate finden könnte. Ich muß aufrichtig geſtehen, verſetzte Na¬ talie, es iſt ein gefährlicher Verſuch, ſich ein Mädchen zuzueignen, in dem Augenblicke, da ſie aus Liebe zu einem andern verzweifelt. Ich habe es gewagt, verſetzte Jarno, ſie wird unter einer gewiſſen Bedingung mein. Und, glauben Sie mir, es iſt in der Welt nichts ſchätzbarer als ein Herz, das der Liebe und der Leidenſchaft fähig iſt. Ob es ge¬ liebt habe? ob es noch liebe? Darauf kommt es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer geliebt wird, iſt mir beynah reizender als die, mit der ich geliebt werden könnte; ich ſehe die Kraft, die Gewalt eines ſchönen Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den reinen Anblick trübt. Haben Sie Lydien in dieſen Tagen ſchon geſprochen? verſetzte Natalie.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/395>, abgerufen am 17.06.2024.