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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht
genug, daß man sein Leben für einen Freund
wagen könne, man muß auch im Nothfall
seine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬
sere liebste Leidenschaft, unsere besten Wün¬
sche sind wir für ihn aufzuopfern schuldig.
Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich
schon die Qual voraussehe, die ich von Ly¬
diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde
zu erdulden haben.

Dagegen erwartet sie auch keine geringe
Belohnung, versetzte Jarno, indem Sie Fräu¬
lein Theresen kennen lernen, ein Frauenzim¬
mer, wie es ihrer wenige giebt; sie beschämt
hundert Männer, und ich möchte sie eine
wahre Amazone nennen, wenn andere nur
als artige Hermaphroditen in dieser zwey¬
deutigen Kleidung herum gehen.

Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬
resen seine Amazone wieder zu finden, um

ich mich gerne ſelbſt vergeſſen. Es iſt nicht
genug, daß man ſein Leben für einen Freund
wagen könne, man muß auch im Nothfall
ſeine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬
ſere liebſte Leidenſchaft, unſere beſten Wün¬
ſche ſind wir für ihn aufzuopfern ſchuldig.
Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich
ſchon die Qual vorausſehe, die ich von Ly¬
diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde
zu erdulden haben.

Dagegen erwartet ſie auch keine geringe
Belohnung, verſetzte Jarno, indem Sie Fräu¬
lein Thereſen kennen lernen, ein Frauenzim¬
mer, wie es ihrer wenige giebt; ſie beſchämt
hundert Männer, und ich möchte ſie eine
wahre Amazone nennen, wenn andere nur
als artige Hermaphroditen in dieſer zwey¬
deutigen Kleidung herum gehen.

Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬
reſen ſeine Amazone wieder zu finden, um

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[56/0060] ich mich gerne ſelbſt vergeſſen. Es iſt nicht genug, daß man ſein Leben für einen Freund wagen könne, man muß auch im Nothfall ſeine Überzeugung für ihn verleugnen. Un¬ ſere liebſte Leidenſchaft, unſere beſten Wün¬ ſche ſind wir für ihn aufzuopfern ſchuldig. Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich ſchon die Qual vorausſehe, die ich von Ly¬ diens Thränen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben. Dagegen erwartet ſie auch keine geringe Belohnung, verſetzte Jarno, indem Sie Fräu¬ lein Thereſen kennen lernen, ein Frauenzim¬ mer, wie es ihrer wenige giebt; ſie beſchämt hundert Männer, und ich möchte ſie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieſer zwey¬ deutigen Kleidung herum gehen. Wilhelm war betroffen, er hoffte in The¬ reſen ſeine Amazone wieder zu finden, um

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/60>, abgerufen am 28.11.2024.