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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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war ein wohlhabender Edelmann dieser Pro¬
vinz, ein heiterer, klarer, thätiger, wackrer
Mann, ein zärtlicher Vater, ein redlicher
Freund, ein trefflicher Wirth, an dem ich
nur den einzigen Fehler kannte, daß er ge¬
gen eine Frau zu nachsichtig war, die ihn
nicht zu schätzen wußte. Leider muß ich das
von meiner eigenen Mutter sagen! Ihr
Wesen war dem seinigen ganz entgegenge¬
setzt. Sie war rasch, unbeständig, ohne Nei¬
gung weder für ihr Haus, noch für mich ihr
einziges Kind, verschwenderisch, aber schön,
geistreich, voller Talente, das Entzücken ei¬
nes Zirkels, den sie um sich zu versammeln
wußte. Freylich war ihre Gesellschaft nie¬
mals groß, oder blieb es nicht lange. Die¬
ser Zirkel bestand meist aus Männern, denn
keine Frau befand sich wohl neben ihr, und
noch weniger konnte sie das Verdienst ir¬
gend eines Weibes dulden. Ich glich mei¬

war ein wohlhabender Edelmann dieſer Pro¬
vinz, ein heiterer, klarer, thätiger, wackrer
Mann, ein zärtlicher Vater, ein redlicher
Freund, ein trefflicher Wirth, an dem ich
nur den einzigen Fehler kannte, daß er ge¬
gen eine Frau zu nachſichtig war, die ihn
nicht zu ſchätzen wußte. Leider muß ich das
von meiner eigenen Mutter ſagen! Ihr
Weſen war dem ſeinigen ganz entgegenge¬
ſetzt. Sie war raſch, unbeſtändig, ohne Nei¬
gung weder für ihr Haus, noch für mich ihr
einziges Kind, verſchwenderiſch, aber ſchön,
geiſtreich, voller Talente, das Entzücken ei¬
nes Zirkels, den ſie um ſich zu verſammeln
wußte. Freylich war ihre Geſellſchaft nie¬
mals groß, oder blieb es nicht lange. Die¬
ſer Zirkel beſtand meiſt aus Männern, denn
keine Frau befand ſich wohl neben ihr, und
noch weniger konnte ſie das Verdienſt ir¬
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[76/0080] war ein wohlhabender Edelmann dieſer Pro¬ vinz, ein heiterer, klarer, thätiger, wackrer Mann, ein zärtlicher Vater, ein redlicher Freund, ein trefflicher Wirth, an dem ich nur den einzigen Fehler kannte, daß er ge¬ gen eine Frau zu nachſichtig war, die ihn nicht zu ſchätzen wußte. Leider muß ich das von meiner eigenen Mutter ſagen! Ihr Weſen war dem ſeinigen ganz entgegenge¬ ſetzt. Sie war raſch, unbeſtändig, ohne Nei¬ gung weder für ihr Haus, noch für mich ihr einziges Kind, verſchwenderiſch, aber ſchön, geiſtreich, voller Talente, das Entzücken ei¬ nes Zirkels, den ſie um ſich zu verſammeln wußte. Freylich war ihre Geſellſchaft nie¬ mals groß, oder blieb es nicht lange. Die¬ ſer Zirkel beſtand meiſt aus Männern, denn keine Frau befand ſich wohl neben ihr, und noch weniger konnte ſie das Verdienſt ir¬ gend eines Weibes dulden. Ich glich mei¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/80>, abgerufen am 26.11.2024.