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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um
ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu
entziehen. Er warf sich vor ihr nieder und
sie konnte sich nicht erwehren, daß er nicht
ihren Schuh küßte, und daß, als dieser ihm
in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und
ihn zärtlich an seine Brust drückte.

Charlotte war eine von den Frauen, die
von Natur mäßig, im Ehestande, ohne Vor¬
satz und Anstrengung, die Art und Weise
der Liebhaberinnen fortführen. Niemals reiz¬
te sie den Mann, ja seinem Verlangen kam
sie kaum entgegen; aber ohne Kälte und ab¬
stoßende Strenge glich sie immer einer liebe¬
vollen Braut, die selbst vor dem Erlaub¬
ten noch innige Scheu trägt. Und so fand
sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.
Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg:
denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr
Vorwürfe zu machen. Aber das was Eduar¬
den hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr

Sie hatte ſich in einen Seſſel geſetzt, um
ihre leichte Nachtkleidung ſeinen Blicken zu
entziehen. Er warf ſich vor ihr nieder und
ſie konnte ſich nicht erwehren, daß er nicht
ihren Schuh kuͤßte, und daß, als dieſer ihm
in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und
ihn zaͤrtlich an ſeine Bruſt druͤckte.

Charlotte war eine von den Frauen, die
von Natur maͤßig, im Eheſtande, ohne Vor¬
ſatz und Anſtrengung, die Art und Weiſe
der Liebhaberinnen fortfuͤhren. Niemals reiz¬
te ſie den Mann, ja ſeinem Verlangen kam
ſie kaum entgegen; aber ohne Kaͤlte und ab¬
ſtoßende Strenge glich ſie immer einer liebe¬
vollen Braut, die ſelbſt vor dem Erlaub¬
ten noch innige Scheu traͤgt. Und ſo fand
ſie Eduard dieſen Abend in doppeltem Sinne.
Wie ſehnlich wuͤnſchte ſie den Gatten weg:
denn die Luftgeſtalt des Freundes ſchien ihr
Vorwuͤrfe zu machen. Aber das was Eduar¬
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[206/0211] Sie hatte ſich in einen Seſſel geſetzt, um ihre leichte Nachtkleidung ſeinen Blicken zu entziehen. Er warf ſich vor ihr nieder und ſie konnte ſich nicht erwehren, daß er nicht ihren Schuh kuͤßte, und daß, als dieſer ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zaͤrtlich an ſeine Bruſt druͤckte. Charlotte war eine von den Frauen, die von Natur maͤßig, im Eheſtande, ohne Vor¬ ſatz und Anſtrengung, die Art und Weiſe der Liebhaberinnen fortfuͤhren. Niemals reiz¬ te ſie den Mann, ja ſeinem Verlangen kam ſie kaum entgegen; aber ohne Kaͤlte und ab¬ ſtoßende Strenge glich ſie immer einer liebe¬ vollen Braut, die ſelbſt vor dem Erlaub¬ ten noch innige Scheu traͤgt. Und ſo fand ſie Eduard dieſen Abend in doppeltem Sinne. Wie ſehnlich wuͤnſchte ſie den Gatten weg: denn die Luftgeſtalt des Freundes ſchien ihr Vorwuͤrfe zu machen. Aber das was Eduar¬ den haͤtte entfernen ſollen, zog ihn nur mehr

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/211>, abgerufen am 21.05.2024.