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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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gelangt, den er sich durch eine hartnäckige, ja
romanenhafte Treue doch zuletzt erworben
hatte; und nun fühlte er sich zum erstenmal
widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben
da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen,
da er sein ganzes Daseyn gleichsam abschlie¬
ßen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig,
nahm einigemal die Feder und legte sie nie¬
der, weil er nicht einig mit sich werden konnte,
was er schreiben sollte. Gegen die Wünsche
seiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Ver¬
langen konnte er nicht; unruhig wie er war
sollte er einen ruhigen Brief schreiben, es
wäre ihm ganz unmöglich gewesen. Das na¬
türlichste war, daß er Aufschub suchte. Mit
wenig Worten bat er seinen Freund um Ver¬
zeihung, daß er diese Tage nicht geschrieben,
daß er heut nicht umständlich schreibe, und
versprach für nächstens ein bedeutenderes, ein
beruhigendes Blatt.

Charlotte benutzte des andern Tags auf
einem Spaziergang nach derselben Stelle die

gelangt, den er ſich durch eine hartnaͤckige, ja
romanenhafte Treue doch zuletzt erworben
hatte; und nun fuͤhlte er ſich zum erſtenmal
widerſprochen, zum erſtenmal gehindert, eben
da er ſeinen Jugendfreund an ſich heranziehen,
da er ſein ganzes Daſeyn gleichſam abſchlie¬
ßen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig,
nahm einigemal die Feder und legte ſie nie¬
der, weil er nicht einig mit ſich werden konnte,
was er ſchreiben ſollte. Gegen die Wuͤnſche
ſeiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Ver¬
langen konnte er nicht; unruhig wie er war
ſollte er einen ruhigen Brief ſchreiben, es
waͤre ihm ganz unmoͤglich geweſen. Das na¬
tuͤrlichſte war, daß er Aufſchub ſuchte. Mit
wenig Worten bat er ſeinen Freund um Ver¬
zeihung, daß er dieſe Tage nicht geſchrieben,
daß er heut nicht umſtaͤndlich ſchreibe, und
verſprach fuͤr naͤchſtens ein bedeutenderes, ein
beruhigendes Blatt.

Charlotte benutzte des andern Tags auf
einem Spaziergang nach derſelben Stelle die

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[23/0028] gelangt, den er ſich durch eine hartnaͤckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fuͤhlte er ſich zum erſtenmal widerſprochen, zum erſtenmal gehindert, eben da er ſeinen Jugendfreund an ſich heranziehen, da er ſein ganzes Daſeyn gleichſam abſchlie¬ ßen wollte. Er war verdrießlich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte ſie nie¬ der, weil er nicht einig mit ſich werden konnte, was er ſchreiben ſollte. Gegen die Wuͤnſche ſeiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Ver¬ langen konnte er nicht; unruhig wie er war ſollte er einen ruhigen Brief ſchreiben, es waͤre ihm ganz unmoͤglich geweſen. Das na¬ tuͤrlichſte war, daß er Aufſchub ſuchte. Mit wenig Worten bat er ſeinen Freund um Ver¬ zeihung, daß er dieſe Tage nicht geſchrieben, daß er heut nicht umſtaͤndlich ſchreibe, und verſprach fuͤr naͤchſtens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt. Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derſelben Stelle die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/28>, abgerufen am 30.04.2024.