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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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Von diesem einsamen Freunde können wir
soviel sagen, daß er sich im Stillen dem
Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ und
dabey mancherley Plane sich ausdachte, man¬
cherley Hoffnungen nährte. Er konnte sich nicht
läugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wün¬
sche, daß er wünsche sie hieher zu führen, zu
locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes
und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.
Dann schwankte seine Einbildungskraft in al¬
len Möglichkeiten herum. Sollte er sie
hier nicht besitzen, nicht rechtmäßig besitzen
können, so wollte er ihr den Besitz des
Gutes zueignen. Hier sollte sie still für
sich, unabhängig leben; sie sollte glücklich
seyn, und wenn ihn eine selbstquälerische Ein¬
bildungskraft noch weiter führte, vielleicht
mit einem Andern glücklich seyn.

So verflossen ihm seine Tage in einem
ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und
Schmerz, zwischen Thränen und Heiterkeit,

I. 19

Von dieſem einſamen Freunde koͤnnen wir
ſoviel ſagen, daß er ſich im Stillen dem
Gefuͤhl ſeiner Leidenſchaft ganz uͤberließ und
dabey mancherley Plane ſich ausdachte, man¬
cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte ſich nicht
laͤugnen, daß er Ottilien hier zu ſehen wuͤn¬
ſche, daß er wuͤnſche ſie hieher zu fuͤhren, zu
locken, und was er ſich ſonſt noch Erlaubtes
und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.
Dann ſchwankte ſeine Einbildungskraft in al¬
len Moͤglichkeiten herum. Sollte er ſie
hier nicht beſitzen, nicht rechtmaͤßig beſitzen
koͤnnen, ſo wollte er ihr den Beſitz des
Gutes zueignen. Hier ſollte ſie ſtill fuͤr
ſich, unabhaͤngig leben; ſie ſollte gluͤcklich
ſeyn, und wenn ihn eine ſelbſtquaͤleriſche Ein¬
bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht
mit einem Andern gluͤcklich ſeyn.

So verfloſſen ihm ſeine Tage in einem
ewigen Schwanken zwiſchen Hoffnung und
Schmerz, zwiſchen Thraͤnen und Heiterkeit,

I. 19
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[289/0294] Von dieſem einſamen Freunde koͤnnen wir ſoviel ſagen, daß er ſich im Stillen dem Gefuͤhl ſeiner Leidenſchaft ganz uͤberließ und dabey mancherley Plane ſich ausdachte, man¬ cherley Hoffnungen naͤhrte. Er konnte ſich nicht laͤugnen, daß er Ottilien hier zu ſehen wuͤn¬ ſche, daß er wuͤnſche ſie hieher zu fuͤhren, zu locken, und was er ſich ſonſt noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte. Dann ſchwankte ſeine Einbildungskraft in al¬ len Moͤglichkeiten herum. Sollte er ſie hier nicht beſitzen, nicht rechtmaͤßig beſitzen koͤnnen, ſo wollte er ihr den Beſitz des Gutes zueignen. Hier ſollte ſie ſtill fuͤr ſich, unabhaͤngig leben; ſie ſollte gluͤcklich ſeyn, und wenn ihn eine ſelbſtquaͤleriſche Ein¬ bildungskraft noch weiter fuͤhrte, vielleicht mit einem Andern gluͤcklich ſeyn. So verfloſſen ihm ſeine Tage in einem ewigen Schwanken zwiſchen Hoffnung und Schmerz, zwiſchen Thraͤnen und Heiterkeit, I. 19

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/294>, abgerufen am 24.11.2024.