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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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sprochen keinen Schritt gegen sie zu thun, und
das will ich halten. Aber was bindet sie,
daß sie sich nicht zu mir wendet? Hat etwa
Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen
und Schwur von ihr zu fordern, daß sie mir
nicht schreiben, keine Nachricht von sich geben
wolle? Es ist natürlich, es ist wahrscheinlich
und doch finde ich es unerhört, unerträglich.
Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich
weiß, warum entschließt sie sich nicht, warum
wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in mei¬
ne Arme zu werfen? Sie sollte das, denke
ich manchmal, sie könnte das. Wenn sich et¬
was auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen
die Thüre. Sie soll hereintreten! denk' ich,
hoff' ich. Ach! und da das Mögliche un¬
möglich ist, bilde ich mir ein, das Unmögliche
müsse möglich werden. Nachts wenn ich
aufwache, die Lampe einen unsichern Schein
durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre
Gestalt, ihr Geist, eine Ahndung von ihr,
vorüberschweben, herantreten, mich ergreifen,

ſprochen keinen Schritt gegen ſie zu thun, und
das will ich halten. Aber was bindet ſie,
daß ſie ſich nicht zu mir wendet? Hat etwa
Charlotte die Grauſamkeit gehabt, Verſprechen
und Schwur von ihr zu fordern, daß ſie mir
nicht ſchreiben, keine Nachricht von ſich geben
wolle? Es iſt natuͤrlich, es iſt wahrſcheinlich
und doch finde ich es unerhoͤrt, unertraͤglich.
Wenn ſie mich liebt, wie ich glaube, wie ich
weiß, warum entſchließt ſie ſich nicht, warum
wagt ſie es nicht, zu fliehen und ſich in mei¬
ne Arme zu werfen? Sie ſollte das, denke
ich manchmal, ſie koͤnnte das. Wenn ſich et¬
was auf dem Vorſaale regt, ſehe ich gegen
die Thuͤre. Sie ſoll hereintreten! denk' ich,
hoff' ich. Ach! und da das Moͤgliche un¬
moͤglich iſt, bilde ich mir ein, das Unmoͤgliche
muͤſſe moͤglich werden. Nachts wenn ich
aufwache, die Lampe einen unſichern Schein
durch das Schlafzimmer wirft, da ſollte ihre
Geſtalt, ihr Geiſt, eine Ahndung von ihr,
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[292/0297] ſprochen keinen Schritt gegen ſie zu thun, und das will ich halten. Aber was bindet ſie, daß ſie ſich nicht zu mir wendet? Hat etwa Charlotte die Grauſamkeit gehabt, Verſprechen und Schwur von ihr zu fordern, daß ſie mir nicht ſchreiben, keine Nachricht von ſich geben wolle? Es iſt natuͤrlich, es iſt wahrſcheinlich und doch finde ich es unerhoͤrt, unertraͤglich. Wenn ſie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiß, warum entſchließt ſie ſich nicht, warum wagt ſie es nicht, zu fliehen und ſich in mei¬ ne Arme zu werfen? Sie ſollte das, denke ich manchmal, ſie koͤnnte das. Wenn ſich et¬ was auf dem Vorſaale regt, ſehe ich gegen die Thuͤre. Sie ſoll hereintreten! denk' ich, hoff' ich. Ach! und da das Moͤgliche un¬ moͤglich iſt, bilde ich mir ein, das Unmoͤgliche muͤſſe moͤglich werden. Nachts wenn ich aufwache, die Lampe einen unſichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da ſollte ihre Geſtalt, ihr Geiſt, eine Ahndung von ihr, voruͤberſchweben, herantreten, mich ergreifen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/297>, abgerufen am 24.11.2024.