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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809.

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das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in
sehr drückenden Verhältnissen befindet. Wenn
Luciane, meine Tochter, die für die Welt ge¬
boren ist, sich dort für die Welt bildet, wenn
sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst
von Kenntnissen ihr mitgetheilt wird, so wie
ihre Noten und Variationen vom Blatte weg¬
spielt; wenn bey einer lebhaften Natur und
bey einem glücklichen Gedächtniß sie, man
möchte wohl sagen, alles vergißt und im Au¬
genblicke sich an alles erinnert; wenn sie
durch Freyheit des Betragens, Anmuth im
Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gesprächs
sich vor allen auszeichnet, und durch ein an¬
gebornes herrschendes Wesen sich zur Königinn
des kleinen Kreises macht; wenn die Vorste¬
herinn dieser Anstalt sie als eine kleine Gott¬
heit ansieht, die nun erst unter ihren Händen
recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen
erwerben und einen Zufluß von andern jungen
Personen verschaffen wird; wenn die ersten
Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte im¬

das liebe Kind in der Penſion, wo ſie ſich in
ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen befindet. Wenn
Luciane, meine Tochter, die fuͤr die Welt ge¬
boren iſt, ſich dort fuͤr die Welt bildet, wenn
ſie Sprachen, Geſchichtliches und was ſonſt
von Kenntniſſen ihr mitgetheilt wird, ſo wie
ihre Noten und Variationen vom Blatte weg¬
ſpielt; wenn bey einer lebhaften Natur und
bey einem gluͤcklichen Gedaͤchtniß ſie, man
moͤchte wohl ſagen, alles vergißt und im Au¬
genblicke ſich an alles erinnert; wenn ſie
durch Freyheit des Betragens, Anmuth im
Tanze, ſchickliche Bequemlichkeit des Geſpraͤchs
ſich vor allen auszeichnet, und durch ein an¬
gebornes herrſchendes Weſen ſich zur Koͤniginn
des kleinen Kreiſes macht; wenn die Vorſte¬
herinn dieſer Anſtalt ſie als eine kleine Gott¬
heit anſieht, die nun erſt unter ihren Haͤnden
recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen
erwerben und einen Zufluß von andern jungen
Perſonen verſchaffen wird; wenn die erſten
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[26/0031] das liebe Kind in der Penſion, wo ſie ſich in ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen befindet. Wenn Luciane, meine Tochter, die fuͤr die Welt ge¬ boren iſt, ſich dort fuͤr die Welt bildet, wenn ſie Sprachen, Geſchichtliches und was ſonſt von Kenntniſſen ihr mitgetheilt wird, ſo wie ihre Noten und Variationen vom Blatte weg¬ ſpielt; wenn bey einer lebhaften Natur und bey einem gluͤcklichen Gedaͤchtniß ſie, man moͤchte wohl ſagen, alles vergißt und im Au¬ genblicke ſich an alles erinnert; wenn ſie durch Freyheit des Betragens, Anmuth im Tanze, ſchickliche Bequemlichkeit des Geſpraͤchs ſich vor allen auszeichnet, und durch ein an¬ gebornes herrſchendes Weſen ſich zur Koͤniginn des kleinen Kreiſes macht; wenn die Vorſte¬ herinn dieſer Anſtalt ſie als eine kleine Gott¬ heit anſieht, die nun erſt unter ihren Haͤnden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zufluß von andern jungen Perſonen verſchaffen wird; wenn die erſten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte im¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 1. Tübingen, 1809, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw01_1809/31>, abgerufen am 21.11.2024.