thinn, als sie ihn erblickte, zurück. Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬ borgen bleiben. Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegen einander. Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor oder zurückzugehen, und als er eine Bewegung machte, sich ihr zu nähern, trat sie einige Schritte zurück bis an den Tisch. Auch er trat wieder zurück. Ottilie, rief er aus, laß mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind wir nur Schatten, die einander gegenüber stehen? Aber vor allen Dingen höre! es ist Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest. Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬ ten sollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und dann beschließe was du kannst.
Sie blickte herab auf den Brief und nach einigem Besinnen nahm sie ihn auf, erbrach und las ihn. Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn gelesen und so legte sie ihn leise
thinn, als ſie ihn erblickte, zuruͤck. Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬ borgen bleiben. Er wendete ſich gegen ſie, und ſo ſtanden die Liebenden abermals auf die ſeltſamſte Weiſe gegen einander. Sie ſah ihn ruhig und ernſthaft an, ohne vor oder zuruͤckzugehen, und als er eine Bewegung machte, ſich ihr zu naͤhern, trat ſie einige Schritte zuruͤck bis an den Tiſch. Auch er trat wieder zuruͤck. Ottilie, rief er aus, laß mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind wir nur Schatten, die einander gegenuͤber ſtehen? Aber vor allen Dingen hoͤre! es iſt Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findeſt. Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬ ten ſollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und dann beſchließe was du kannſt.
Sie blickte herab auf den Brief und nach einigem Beſinnen nahm ſie ihn auf, erbrach und las ihn. Ohne die Miene zu veraͤndern, hatte ſie ihn geleſen und ſo legte ſie ihn leiſe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0299"n="296"/>
thinn, als ſie ihn erblickte, zuruͤck. Auch<lb/>
Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬<lb/>
borgen bleiben. Er wendete ſich gegen ſie,<lb/>
und ſo ſtanden die Liebenden abermals auf<lb/>
die ſeltſamſte Weiſe gegen einander. Sie ſah<lb/>
ihn ruhig und ernſthaft an, ohne vor oder<lb/>
zuruͤckzugehen, und als er eine Bewegung<lb/>
machte, ſich ihr zu naͤhern, trat ſie einige<lb/>
Schritte zuruͤck bis an den Tiſch. Auch er<lb/>
trat wieder zuruͤck. Ottilie, rief er aus, laß<lb/>
mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind<lb/>
wir nur Schatten, die einander gegenuͤber<lb/>ſtehen? Aber vor allen Dingen hoͤre! es iſt<lb/>
Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findeſt.<lb/>
Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬<lb/>
ten ſollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und<lb/>
dann beſchließe was du kannſt.</p><lb/><p>Sie blickte herab auf den Brief und nach<lb/>
einigem Beſinnen nahm ſie ihn auf, erbrach<lb/>
und las ihn. Ohne die Miene zu veraͤndern,<lb/>
hatte ſie ihn geleſen und ſo legte ſie ihn leiſe<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[296/0299]
thinn, als ſie ihn erblickte, zuruͤck. Auch
Ottilien konnte er nicht einen Augenblick ver¬
borgen bleiben. Er wendete ſich gegen ſie,
und ſo ſtanden die Liebenden abermals auf
die ſeltſamſte Weiſe gegen einander. Sie ſah
ihn ruhig und ernſthaft an, ohne vor oder
zuruͤckzugehen, und als er eine Bewegung
machte, ſich ihr zu naͤhern, trat ſie einige
Schritte zuruͤck bis an den Tiſch. Auch er
trat wieder zuruͤck. Ottilie, rief er aus, laß
mich das furchtbare Schweigen brechen! Sind
wir nur Schatten, die einander gegenuͤber
ſtehen? Aber vor allen Dingen hoͤre! es iſt
Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findeſt.
Neben dir liegt ein Brief, der dich vorberei¬
ten ſollte. Lies, ich bitte dich, lies ihn! und
dann beſchließe was du kannſt.
Sie blickte herab auf den Brief und nach
einigem Beſinnen nahm ſie ihn auf, erbrach
und las ihn. Ohne die Miene zu veraͤndern,
hatte ſie ihn geleſen und ſo legte ſie ihn leiſe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/299>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.