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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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dergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig ge¬
rungenen Händen, Haupt und Blick nach der
Entseelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er so vor Belisar ge¬
standen. Unwillkührlich gerieth er jetzt in die
gleiche Stellung; und wie natürlich war sie
auch dießmal! Auch hier war etwas unschätz¬
bar Würdiges von seiner Höhe herabge¬
stürzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit,
Macht, Rang und Vermögen in einem Man¬
ne als unwiederbringlich verloren bedauert
wurden; wenn Eigenschaften, die der Nation,
dem Fürsten, in entscheidenden Momenten un¬
entbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr ver¬
worfen und ausgestoßen worden: so waren
hier so viel andere stille Tugenden, von der
Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tie¬
fen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige
Hand schnell wieder ausgetilgt: seltene, schöne,
liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Ein¬
wirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit

dergeſenkten Armen, gefalteten, mitleidig ge¬
rungenen Haͤnden, Haupt und Blick nach der
Entſeelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er ſo vor Beliſar ge¬
ſtanden. Unwillkuͤhrlich gerieth er jetzt in die
gleiche Stellung; und wie natuͤrlich war ſie
auch dießmal! Auch hier war etwas unſchaͤtz¬
bar Wuͤrdiges von ſeiner Hoͤhe herabge¬
ſtuͤrzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit,
Macht, Rang und Vermoͤgen in einem Man¬
ne als unwiederbringlich verloren bedauert
wurden; wenn Eigenſchaften, die der Nation,
dem Fuͤrſten, in entſcheidenden Momenten un¬
entbehrlich ſind, nicht geſchaͤtzt, vielmehr ver¬
worfen und ausgeſtoßen worden: ſo waren
hier ſo viel andere ſtille Tugenden, von der
Natur erſt kurz aus ihren gehaltreichen Tie¬
fen hervorgerufen, durch ihre gleichguͤltige
Hand ſchnell wieder ausgetilgt: ſeltene, ſchoͤne,
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[332/0335] dergeſenkten Armen, gefalteten, mitleidig ge¬ rungenen Haͤnden, Haupt und Blick nach der Entſeelten hingeneigt. Schon einmal hatte er ſo vor Beliſar ge¬ ſtanden. Unwillkuͤhrlich gerieth er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natuͤrlich war ſie auch dießmal! Auch hier war etwas unſchaͤtz¬ bar Wuͤrdiges von ſeiner Hoͤhe herabge¬ ſtuͤrzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermoͤgen in einem Man¬ ne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden; wenn Eigenſchaften, die der Nation, dem Fuͤrſten, in entſcheidenden Momenten un¬ entbehrlich ſind, nicht geſchaͤtzt, vielmehr ver¬ worfen und ausgeſtoßen worden: ſo waren hier ſo viel andere ſtille Tugenden, von der Natur erſt kurz aus ihren gehaltreichen Tie¬ fen hervorgerufen, durch ihre gleichguͤltige Hand ſchnell wieder ausgetilgt: ſeltene, ſchoͤne, liebenswuͤrdige Tugenden, deren friedliche Ein¬ wirkung die beduͤrftige Welt zu jeder Zeit mit

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/335>, abgerufen am 21.11.2024.