wonnevollem Genügen umfängt und mit sehn¬ süchtiger Trauer vermißt.
Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeit lang; als sie ihm aber die Thränen häufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz ganz aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit so viel Wohlwollen und Sicherheit, ihm zu, daß er über den Fluß ihrer Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte, und seine schöne Freundinn ihm in einer höhern Region lebend und wir¬ kend vorschwebte. Seine Thränen trockneten, seine Schmerzen linderten sich; knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen Hände¬ druck von Nanny Abschied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg ohne Jemand weiter gesehen zu haben.
Der Wundarzt war die Nacht über, ohne des Mädchens Wissen, in der Kirche geblie¬ ben, und fand als er sie des Morgens be¬
wonnevollem Genuͤgen umfaͤngt und mit ſehn¬ ſuͤchtiger Trauer vermißt.
Der Juͤngling ſchwieg, auch das Maͤdchen eine Zeit lang; als ſie ihm aber die Thraͤnen haͤufig aus dem Auge quellen ſah, als er ſich im Schmerz ganz aufzuloͤſen ſchien, ſprach ſie mit ſo viel Wahrheit und Kraft, mit ſo viel Wohlwollen und Sicherheit, ihm zu, daß er uͤber den Fluß ihrer Rede erſtaunt, ſich zu faſſen vermochte, und ſeine ſchoͤne Freundinn ihm in einer hoͤhern Region lebend und wir¬ kend vorſchwebte. Seine Thraͤnen trockneten, ſeine Schmerzen linderten ſich; knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen Haͤnde¬ druck von Nanny Abſchied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg ohne Jemand weiter geſehen zu haben.
Der Wundarzt war die Nacht uͤber, ohne des Maͤdchens Wiſſen, in der Kirche geblie¬ ben, und fand als er ſie des Morgens be¬
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wonnevollem Genuͤgen umfaͤngt und mit ſehn¬
ſuͤchtiger Trauer vermißt.
Der Juͤngling ſchwieg, auch das Maͤdchen
eine Zeit lang; als ſie ihm aber die Thraͤnen
haͤufig aus dem Auge quellen ſah, als er ſich
im Schmerz ganz aufzuloͤſen ſchien, ſprach ſie
mit ſo viel Wahrheit und Kraft, mit ſo viel
Wohlwollen und Sicherheit, ihm zu, daß er
uͤber den Fluß ihrer Rede erſtaunt, ſich zu
faſſen vermochte, und ſeine ſchoͤne Freundinn
ihm in einer hoͤhern Region lebend und wir¬
kend vorſchwebte. Seine Thraͤnen trockneten,
ſeine Schmerzen linderten ſich; knieend nahm
er von Ottilien, mit einem herzlichen Haͤnde¬
druck von Nanny Abſchied, und noch in der
Nacht ritt er vom Orte weg ohne Jemand
weiter geſehen zu haben.
Der Wundarzt war die Nacht uͤber, ohne
des Maͤdchens Wiſſen, in der Kirche geblie¬
ben, und fand als er ſie des Morgens be¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/336>, abgerufen am 21.11.2024.
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