Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

Bild:
<< vorherige Seite

eins wie das andre mußte leiden, eins wie
das andre wurde durch ihre spöttischen Be¬
merkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man
sich hätte verwundern sollen, wie fünf Meilen
umher irgend etwas nur noch existirte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in
diesem verneinenden Bestreben; ein selbstischer
Muthwille mochte sie gewöhnlich anreizen:
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in
ihrem Verhältniß zu Ottilien erzeugt. Auf
die ruhige ununterbrochene Thätigkeit des
lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt
und gepriesen wurde, sah sie mit Verachtung
herab, und als zur Sprache kam, wie sehr
sich Ottilie der Gärten und der Treibhäuser
annehme, spottete sie nicht allein darüber,
indem sie, uneingedenk des tiefen Winters in
dem man lebte, sich zu verwundern schien,
daß man weder Blumen noch Früchte gewahr
werde; sondern sie ließ auch von nun an so
viel Grünes, so viel Zweige und was nur

eins wie das andre mußte leiden, eins wie
das andre wurde durch ihre ſpoͤttiſchen Be¬
merkungen gleichſam aufgezehrt, ſo daß man
ſich haͤtte verwundern ſollen, wie fuͤnf Meilen
umher irgend etwas nur noch exiſtirte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in
dieſem verneinenden Beſtreben; ein ſelbſtiſcher
Muthwille mochte ſie gewoͤhnlich anreizen:
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte ſich in
ihrem Verhaͤltniß zu Ottilien erzeugt. Auf
die ruhige ununterbrochene Thaͤtigkeit des
lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt
und geprieſen wurde, ſah ſie mit Verachtung
herab, und als zur Sprache kam, wie ſehr
ſich Ottilie der Gaͤrten und der Treibhaͤuſer
annehme, ſpottete ſie nicht allein daruͤber,
indem ſie, uneingedenk des tiefen Winters in
dem man lebte, ſich zu verwundern ſchien,
daß man weder Blumen noch Fruͤchte gewahr
werde; ſondern ſie ließ auch von nun an ſo
viel Gruͤnes, ſo viel Zweige und was nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0080" n="77"/>
eins wie das andre mußte leiden, eins wie<lb/>
das andre wurde durch ihre &#x017F;po&#x0364;tti&#x017F;chen Be¬<lb/>
merkungen gleich&#x017F;am aufgezehrt, &#x017F;o daß man<lb/>
&#x017F;ich ha&#x0364;tte verwundern &#x017F;ollen, wie fu&#x0364;nf Meilen<lb/>
umher irgend etwas nur noch exi&#x017F;tirte.</p><lb/>
        <p>Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in<lb/>
die&#x017F;em verneinenden Be&#x017F;treben; ein &#x017F;elb&#x017F;ti&#x017F;cher<lb/>
Muthwille mochte &#x017F;ie gewo&#x0364;hnlich anreizen:<lb/>
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte &#x017F;ich in<lb/>
ihrem Verha&#x0364;ltniß zu Ottilien erzeugt. Auf<lb/>
die ruhige ununterbrochene Tha&#x0364;tigkeit des<lb/>
lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt<lb/>
und geprie&#x017F;en wurde, &#x017F;ah &#x017F;ie mit Verachtung<lb/>
herab, und als zur Sprache kam, wie &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;ich Ottilie der Ga&#x0364;rten und der Treibha&#x0364;u&#x017F;er<lb/>
annehme, &#x017F;pottete &#x017F;ie nicht allein daru&#x0364;ber,<lb/>
indem &#x017F;ie, uneingedenk des tiefen Winters in<lb/>
dem man lebte, &#x017F;ich zu verwundern &#x017F;chien,<lb/>
daß man weder Blumen noch Fru&#x0364;chte gewahr<lb/>
werde; &#x017F;ondern &#x017F;ie ließ auch von nun an &#x017F;o<lb/>
viel Gru&#x0364;nes, &#x017F;o viel Zweige und was nur<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0080] eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre ſpoͤttiſchen Be¬ merkungen gleichſam aufgezehrt, ſo daß man ſich haͤtte verwundern ſollen, wie fuͤnf Meilen umher irgend etwas nur noch exiſtirte. Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in dieſem verneinenden Beſtreben; ein ſelbſtiſcher Muthwille mochte ſie gewoͤhnlich anreizen: aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte ſich in ihrem Verhaͤltniß zu Ottilien erzeugt. Auf die ruhige ununterbrochene Thaͤtigkeit des lieben Kindes, die von Jedermann bemerkt und geprieſen wurde, ſah ſie mit Verachtung herab, und als zur Sprache kam, wie ſehr ſich Ottilie der Gaͤrten und der Treibhaͤuſer annehme, ſpottete ſie nicht allein daruͤber, indem ſie, uneingedenk des tiefen Winters in dem man lebte, ſich zu verwundern ſchien, daß man weder Blumen noch Fruͤchte gewahr werde; ſondern ſie ließ auch von nun an ſo viel Gruͤnes, ſo viel Zweige und was nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/80
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/80>, abgerufen am 21.11.2024.