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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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schweres Kreuz aufgelegt. Wie lang ist er so?
fragt ich. So stille, sagte sie, ist er nun ein halb
Jahr. Gott sey Dank, daß es nur so weit ist.
Vorher war er ein ganz Jahr rasend, da hat er
an Ketten im Tollhause gelegen. Jezt thut er
niemand nichts, nur hat er immer mit Königen
und Kaysern zu thun. Es war ein so guter stil-
ler Mensch, der mich ernähren half, seine schöne
Hand schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig,
fällt in ein hitzig Fieber, daraus in Raserey, und
nun ist er, wie sie ihn sehen. Wenn ich ihm er-
zählen sollt, Herr -- Jch unterbrach ihren Strom
von Erzählungen mit der Frage: was denn das
für eine Zeit wäre von der er so rühmte, daß er
so glüklich, so wohl darinn gewesen wäre. Der
thörige Mensch, rief sie mit mitleidigem Lächlen,
da meint er die Zeit, da er von sich war, das
rühmt er immer! Das ist die Zeit, da er im
Tollhause war, wo er nichts von sich wußte --
Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag, ich drük-
te ihr ein Stük Geld in die Hand und verließ
sie eilend.

Da



ſchweres Kreuz aufgelegt. Wie lang iſt er ſo?
fragt ich. So ſtille, ſagte ſie, iſt er nun ein halb
Jahr. Gott ſey Dank, daß es nur ſo weit iſt.
Vorher war er ein ganz Jahr raſend, da hat er
an Ketten im Tollhauſe gelegen. Jezt thut er
niemand nichts, nur hat er immer mit Koͤnigen
und Kayſern zu thun. Es war ein ſo guter ſtil-
ler Menſch, der mich ernaͤhren half, ſeine ſchoͤne
Hand ſchrieb, und auf einmal wird er tiefſinnig,
faͤllt in ein hitzig Fieber, daraus in Raſerey, und
nun iſt er, wie ſie ihn ſehen. Wenn ich ihm er-
zaͤhlen ſollt, Herr — Jch unterbrach ihren Strom
von Erzaͤhlungen mit der Frage: was denn das
fuͤr eine Zeit waͤre von der er ſo ruͤhmte, daß er
ſo gluͤklich, ſo wohl darinn geweſen waͤre. Der
thoͤrige Menſch, rief ſie mit mitleidigem Laͤchlen,
da meint er die Zeit, da er von ſich war, das
ruͤhmt er immer! Das iſt die Zeit, da er im
Tollhauſe war, wo er nichts von ſich wußte —
Das fiel mir auf wie ein Donnerſchlag, ich druͤk-
te ihr ein Stuͤk Geld in die Hand und verließ
ſie eilend.

Da
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[166/0054] ſchweres Kreuz aufgelegt. Wie lang iſt er ſo? fragt ich. So ſtille, ſagte ſie, iſt er nun ein halb Jahr. Gott ſey Dank, daß es nur ſo weit iſt. Vorher war er ein ganz Jahr raſend, da hat er an Ketten im Tollhauſe gelegen. Jezt thut er niemand nichts, nur hat er immer mit Koͤnigen und Kayſern zu thun. Es war ein ſo guter ſtil- ler Menſch, der mich ernaͤhren half, ſeine ſchoͤne Hand ſchrieb, und auf einmal wird er tiefſinnig, faͤllt in ein hitzig Fieber, daraus in Raſerey, und nun iſt er, wie ſie ihn ſehen. Wenn ich ihm er- zaͤhlen ſollt, Herr — Jch unterbrach ihren Strom von Erzaͤhlungen mit der Frage: was denn das fuͤr eine Zeit waͤre von der er ſo ruͤhmte, daß er ſo gluͤklich, ſo wohl darinn geweſen waͤre. Der thoͤrige Menſch, rief ſie mit mitleidigem Laͤchlen, da meint er die Zeit, da er von ſich war, das ruͤhmt er immer! Das iſt die Zeit, da er im Tollhauſe war, wo er nichts von ſich wußte — Das fiel mir auf wie ein Donnerſchlag, ich druͤk- te ihr ein Stuͤk Geld in die Hand und verließ ſie eilend. Da

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/54>, abgerufen am 22.11.2024.