Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_081.001
zwar einen welthistorischen Conflict, eine glänzende Staffage; aber im pgo_081.002
kaiserlosen Deutschland von heute sind keine warmen Sympathieen mehr pgo_081.003
für jene gewaltigen geschichtlichen Erinnerungen vorhanden, welche sich pgo_081.004
an das Kaiserthum der Hohenstaufen knüpfen! Der im Kyffhäuser pgo_081.005
schlummernde Barbarossa ist von ihnen allen ganz allein volksthümlich pgo_081.006
geblieben; aber die Dramatiker, die ihn zu einem Rundgang über die pgo_081.007
deutschen Bühnen aufweckten, Grabbe und Raupach, haben sich überzeugt, pgo_081.008
daß er außerhalb des Kyffhäuser's keine durchschlagende, volksthümliche pgo_081.009
Bedeutung besitzt. Die besten für die moderne Poesie geeigneten Stoffe pgo_081.010
bietet noch das Städteleben des Mittelalters in seiner Entwickelung, weil pgo_081.011
es die meisten Perspectiven in die Zukunft gewährt. Handelsrepubliken pgo_081.012
wie Venedig und Genua, besonders die erstere mit ihrer geheimnißvollen pgo_081.013
Verfassung, ihrem kühnen, abenteuerlichen Sinne, ihrem Völkerverkehr pgo_081.014
mit dem Orient, tragen eine über den engen Geist des Mittelalters hinausreichende pgo_081.015
Poesie in sich.

pgo_081.016
Erst mit der Reformation beginnt eine geschichtliche Stoffwelt, welche pgo_081.017
in den Bedingungen der Kultur, in den Bewegungen der Jdeeen unmittelbar pgo_081.018
auf die Sympathieen der Gegenwart rechnen kann. Hier gewinnt pgo_081.019
die Poesie erst den rechten Boden unter ihren Füßen; es sind die heutigen pgo_081.020
Zustände in ihren Anfängen, in ihrem Werden und Wachsen -- die staatlichen pgo_081.021
Einrichtungen, die Heeresorganisation, die ganze Welt des Protestantismus, pgo_081.022
welcher die freie, geistige Bewegung förderte, die Zurechnungsfähigkeit pgo_081.023
und damit die Entwickelung der einzelnen Charaktere pgo_081.024
tiefer begründet und jene höheren Conflicte der Principien schafft, welche pgo_081.025
die Poesie mit reichem Gedankeninhalt befruchten. Helden wie Gustav pgo_081.026
Adolph, Wallenstein, Karl XII., Peter der Große, Friedrich der Große, pgo_081.027
Napoleon, Zieten, wie die Reformation, die Revolution, ja selbst die pgo_081.028
Rokoko-Zeit mit ihren äußerlichen Schnörkeln, aber dem inneren Sublimat pgo_081.029
ihrer auflösenden Freigeisterei kommen dem modernen Dichter entgegen. pgo_081.030
Selbst nahegelegne Stoffe aus den Kriegen mit Napoleon, den Befreiungskriegen, pgo_081.031
setzen der Poesie kein inneres Hinderniß entgegen. Sonst hätte pgo_081.032
Aeschylos nicht seine "Perser," Shakespeare nicht seinen Heinrich VIII. pgo_081.033
dichten können! Jm Gegentheil, der Stoff ist der dankbarste, der vom pgo_081.034
historischen Pathos der Gegenwart durchdrungen ist! Die Zeitnähe pgo_081.035
erhöht das Jnteresse und kann nur die dichterische Erfindung, aber auch

pgo_081.001
zwar einen welthistorischen Conflict, eine glänzende Staffage; aber im pgo_081.002
kaiserlosen Deutschland von heute sind keine warmen Sympathieen mehr pgo_081.003
für jene gewaltigen geschichtlichen Erinnerungen vorhanden, welche sich pgo_081.004
an das Kaiserthum der Hohenstaufen knüpfen! Der im Kyffhäuser pgo_081.005
schlummernde Barbarossa ist von ihnen allen ganz allein volksthümlich pgo_081.006
geblieben; aber die Dramatiker, die ihn zu einem Rundgang über die pgo_081.007
deutschen Bühnen aufweckten, Grabbe und Raupach, haben sich überzeugt, pgo_081.008
daß er außerhalb des Kyffhäuser's keine durchschlagende, volksthümliche pgo_081.009
Bedeutung besitzt. Die besten für die moderne Poesie geeigneten Stoffe pgo_081.010
bietet noch das Städteleben des Mittelalters in seiner Entwickelung, weil pgo_081.011
es die meisten Perspectiven in die Zukunft gewährt. Handelsrepubliken pgo_081.012
wie Venedig und Genua, besonders die erstere mit ihrer geheimnißvollen pgo_081.013
Verfassung, ihrem kühnen, abenteuerlichen Sinne, ihrem Völkerverkehr pgo_081.014
mit dem Orient, tragen eine über den engen Geist des Mittelalters hinausreichende pgo_081.015
Poesie in sich.

pgo_081.016
Erst mit der Reformation beginnt eine geschichtliche Stoffwelt, welche pgo_081.017
in den Bedingungen der Kultur, in den Bewegungen der Jdeeen unmittelbar pgo_081.018
auf die Sympathieen der Gegenwart rechnen kann. Hier gewinnt pgo_081.019
die Poesie erst den rechten Boden unter ihren Füßen; es sind die heutigen pgo_081.020
Zustände in ihren Anfängen, in ihrem Werden und Wachsen — die staatlichen pgo_081.021
Einrichtungen, die Heeresorganisation, die ganze Welt des Protestantismus, pgo_081.022
welcher die freie, geistige Bewegung förderte, die Zurechnungsfähigkeit pgo_081.023
und damit die Entwickelung der einzelnen Charaktere pgo_081.024
tiefer begründet und jene höheren Conflicte der Principien schafft, welche pgo_081.025
die Poesie mit reichem Gedankeninhalt befruchten. Helden wie Gustav pgo_081.026
Adolph, Wallenstein, Karl XII., Peter der Große, Friedrich der Große, pgo_081.027
Napoleon, Zieten, wie die Reformation, die Revolution, ja selbst die pgo_081.028
Rokoko-Zeit mit ihren äußerlichen Schnörkeln, aber dem inneren Sublimat pgo_081.029
ihrer auflösenden Freigeisterei kommen dem modernen Dichter entgegen. pgo_081.030
Selbst nahegelegne Stoffe aus den Kriegen mit Napoleon, den Befreiungskriegen, pgo_081.031
setzen der Poesie kein inneres Hinderniß entgegen. Sonst hätte pgo_081.032
Aeschylos nicht seine „Perser,“ Shakespeare nicht seinen Heinrich VIII. pgo_081.033
dichten können! Jm Gegentheil, der Stoff ist der dankbarste, der vom pgo_081.034
historischen Pathos der Gegenwart durchdrungen ist! Die Zeitnähe pgo_081.035
erhöht das Jnteresse und kann nur die dichterische Erfindung, aber auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0103" n="81"/><lb n="pgo_081.001"/>
zwar einen welthistorischen Conflict, eine glänzende Staffage; aber im <lb n="pgo_081.002"/>
kaiserlosen Deutschland von heute sind keine warmen Sympathieen mehr <lb n="pgo_081.003"/>
für jene gewaltigen geschichtlichen Erinnerungen vorhanden, welche sich <lb n="pgo_081.004"/>
an das Kaiserthum der Hohenstaufen knüpfen! Der im Kyffhäuser <lb n="pgo_081.005"/>
schlummernde Barbarossa ist von ihnen allen ganz allein volksthümlich <lb n="pgo_081.006"/>
geblieben; aber die Dramatiker, die ihn zu einem Rundgang über die <lb n="pgo_081.007"/>
deutschen Bühnen aufweckten, Grabbe und Raupach, haben sich überzeugt, <lb n="pgo_081.008"/>
daß er außerhalb des Kyffhäuser's keine durchschlagende, volksthümliche <lb n="pgo_081.009"/>
Bedeutung besitzt. Die besten für die moderne Poesie geeigneten Stoffe <lb n="pgo_081.010"/>
bietet noch das Städteleben des Mittelalters in seiner Entwickelung, weil <lb n="pgo_081.011"/>
es die meisten Perspectiven in die Zukunft gewährt. Handelsrepubliken <lb n="pgo_081.012"/>
wie Venedig und Genua, besonders die erstere mit ihrer geheimnißvollen <lb n="pgo_081.013"/>
Verfassung, ihrem kühnen, abenteuerlichen Sinne, ihrem Völkerverkehr <lb n="pgo_081.014"/>
mit dem Orient, tragen eine über den engen Geist des Mittelalters hinausreichende <lb n="pgo_081.015"/>
Poesie in sich.</p>
              <p><lb n="pgo_081.016"/>
Erst mit der Reformation beginnt eine geschichtliche Stoffwelt, welche <lb n="pgo_081.017"/>
in den Bedingungen der Kultur, in den Bewegungen der Jdeeen unmittelbar <lb n="pgo_081.018"/>
auf die Sympathieen der Gegenwart rechnen kann. Hier gewinnt <lb n="pgo_081.019"/>
die Poesie erst den rechten Boden unter ihren Füßen; es sind die heutigen <lb n="pgo_081.020"/>
Zustände in ihren Anfängen, in ihrem Werden und Wachsen &#x2014; die staatlichen <lb n="pgo_081.021"/>
Einrichtungen, die Heeresorganisation, die ganze Welt des Protestantismus, <lb n="pgo_081.022"/>
welcher die freie, geistige Bewegung förderte, die Zurechnungsfähigkeit <lb n="pgo_081.023"/>
und damit die Entwickelung der einzelnen Charaktere <lb n="pgo_081.024"/>
tiefer begründet und jene höheren Conflicte der Principien schafft, welche <lb n="pgo_081.025"/>
die Poesie mit reichem Gedankeninhalt befruchten. Helden wie Gustav <lb n="pgo_081.026"/>
Adolph, Wallenstein, Karl XII., Peter der Große, Friedrich der Große, <lb n="pgo_081.027"/>
Napoleon, Zieten, wie die Reformation, die Revolution, ja selbst die <lb n="pgo_081.028"/>
Rokoko-Zeit mit ihren äußerlichen Schnörkeln, aber dem inneren Sublimat <lb n="pgo_081.029"/>
ihrer auflösenden Freigeisterei kommen dem modernen Dichter entgegen. <lb n="pgo_081.030"/>
Selbst nahegelegne Stoffe aus den Kriegen mit Napoleon, den Befreiungskriegen, <lb n="pgo_081.031"/>
setzen der Poesie kein inneres Hinderniß entgegen. Sonst hätte <lb n="pgo_081.032"/>
Aeschylos nicht seine &#x201E;Perser,&#x201C; Shakespeare nicht seinen Heinrich VIII. <lb n="pgo_081.033"/>
dichten können! Jm Gegentheil, der Stoff ist der dankbarste, der vom <lb n="pgo_081.034"/>
historischen Pathos der Gegenwart durchdrungen ist! Die Zeitnähe <lb n="pgo_081.035"/>
erhöht das Jnteresse und kann nur die dichterische Erfindung, aber auch
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0103] pgo_081.001 zwar einen welthistorischen Conflict, eine glänzende Staffage; aber im pgo_081.002 kaiserlosen Deutschland von heute sind keine warmen Sympathieen mehr pgo_081.003 für jene gewaltigen geschichtlichen Erinnerungen vorhanden, welche sich pgo_081.004 an das Kaiserthum der Hohenstaufen knüpfen! Der im Kyffhäuser pgo_081.005 schlummernde Barbarossa ist von ihnen allen ganz allein volksthümlich pgo_081.006 geblieben; aber die Dramatiker, die ihn zu einem Rundgang über die pgo_081.007 deutschen Bühnen aufweckten, Grabbe und Raupach, haben sich überzeugt, pgo_081.008 daß er außerhalb des Kyffhäuser's keine durchschlagende, volksthümliche pgo_081.009 Bedeutung besitzt. Die besten für die moderne Poesie geeigneten Stoffe pgo_081.010 bietet noch das Städteleben des Mittelalters in seiner Entwickelung, weil pgo_081.011 es die meisten Perspectiven in die Zukunft gewährt. Handelsrepubliken pgo_081.012 wie Venedig und Genua, besonders die erstere mit ihrer geheimnißvollen pgo_081.013 Verfassung, ihrem kühnen, abenteuerlichen Sinne, ihrem Völkerverkehr pgo_081.014 mit dem Orient, tragen eine über den engen Geist des Mittelalters hinausreichende pgo_081.015 Poesie in sich. pgo_081.016 Erst mit der Reformation beginnt eine geschichtliche Stoffwelt, welche pgo_081.017 in den Bedingungen der Kultur, in den Bewegungen der Jdeeen unmittelbar pgo_081.018 auf die Sympathieen der Gegenwart rechnen kann. Hier gewinnt pgo_081.019 die Poesie erst den rechten Boden unter ihren Füßen; es sind die heutigen pgo_081.020 Zustände in ihren Anfängen, in ihrem Werden und Wachsen — die staatlichen pgo_081.021 Einrichtungen, die Heeresorganisation, die ganze Welt des Protestantismus, pgo_081.022 welcher die freie, geistige Bewegung förderte, die Zurechnungsfähigkeit pgo_081.023 und damit die Entwickelung der einzelnen Charaktere pgo_081.024 tiefer begründet und jene höheren Conflicte der Principien schafft, welche pgo_081.025 die Poesie mit reichem Gedankeninhalt befruchten. Helden wie Gustav pgo_081.026 Adolph, Wallenstein, Karl XII., Peter der Große, Friedrich der Große, pgo_081.027 Napoleon, Zieten, wie die Reformation, die Revolution, ja selbst die pgo_081.028 Rokoko-Zeit mit ihren äußerlichen Schnörkeln, aber dem inneren Sublimat pgo_081.029 ihrer auflösenden Freigeisterei kommen dem modernen Dichter entgegen. pgo_081.030 Selbst nahegelegne Stoffe aus den Kriegen mit Napoleon, den Befreiungskriegen, pgo_081.031 setzen der Poesie kein inneres Hinderniß entgegen. Sonst hätte pgo_081.032 Aeschylos nicht seine „Perser,“ Shakespeare nicht seinen Heinrich VIII. pgo_081.033 dichten können! Jm Gegentheil, der Stoff ist der dankbarste, der vom pgo_081.034 historischen Pathos der Gegenwart durchdrungen ist! Die Zeitnähe pgo_081.035 erhöht das Jnteresse und kann nur die dichterische Erfindung, aber auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/103
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/103>, abgerufen am 21.11.2024.