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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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nicht im Wesentlichen, beschränken! Denn nur das Miterlebte giebt ein pgo_082.002
so bestimmtes Bild, daß der Dichter Nichts fortzunehmen, Nichts hinzuzusetzen pgo_082.003
vermag, mag dies Bild nun in seiner schaffenden Phantasie oder pgo_082.004
in der aufnehmenden feststehn! Alles dagegen, was durch Berichte der pgo_082.005
Zeitgenossen uns zu Ohren kommt, wird bereits frei von unserer Phantasie pgo_082.006
gestaltet -- und es ist ihr ganz gleichgültig, ob sie nach den Beschreibungen pgo_082.007
die Schlacht von Pharsalus oder die Schlacht von Waterloo, pgo_082.008
die Belagerung von Sagunt oder von Sebastopol auszumalen hat. pgo_082.009
Daß naheliegende historische Stoffe bei einer dramatischen Behandlung pgo_082.010
auf äußere Hindernisse stoßen, geht weder die Poesie noch die Poetik an. pgo_082.011
Das sociale Leben der Gegenwart ist die letzte Frucht der historischen pgo_082.012
Entwickelung und bietet eine Fülle geistiger Stoffe, besonders für den pgo_082.013
Roman und das Lustspiel. Hier schöpfen die neuern französischen pgo_082.014
Romanschriftsteller, hier Dickens und Thackeray, hier Gutzkow, Freytag, pgo_082.015
Hackländer. Hier findet die psychologische Analyse, der moderne Humor, pgo_082.016
die Begeisterung für Reformen, der Scharfsinn, der stets neuauftauchende pgo_082.017
Probleme der Kultur dichterisch zu lösen versucht, eine ergiebige Ernte. pgo_082.018
Auf der anderen Seite gehört eine große dichterische Kraft dazu, die Sprödigkeit pgo_082.019
einer breiten, oft mechanischen Kulturprosa mit den verwickelten pgo_082.020
Verhältnissen der Gesellschaft zu überwinden, und es liegt die Versuchung pgo_082.021
nahe, rohe und unverarbeitete Verstandeselemente mit in die dichterische pgo_082.022
Schöpfung aufzunehmen. Hier bleibt Jean Paul ein großes Muster; pgo_082.023
denn in letzter Jnstanz triumphirt nur der Humor einer großen Seele, pgo_082.024
die Alles mit ihrem eigenen Hauch durchdringt, über die verstandesmäßige pgo_082.025
Prosa moderner Zustände.

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Wie verhält es sich nun mit der Welt des Wunderbaren, einer Stoffwelt, pgo_082.027
die so recht nur der Phantasie angehört? Jst nicht hier ihre unbeschränkte pgo_082.028
Heimath zu suchen, indem sie, von allem ursächlichen Zusammenhang pgo_082.029
unabhängig, ganz frei mit dem selbsterzeugten Stoffe schaltet? pgo_082.030
Scheint dagegen in unserer Zeit, wo die Naturwissenschaften jeden Winkel pgo_082.031
der Welt mit ihrer Fackel durchleuchten, noch ein anderes Wunder möglich, pgo_082.032
als das ewige der Natur und des Geistes? Jn der That, die pgo_082.033
Göttermaschinerie des Epos würde sich in unserer Zeit in keiner Weise pgo_082.034
anwenden lassen, obgleich sich noch Schiller mit dem Gedanken trug, pgo_082.035
eine moderne Form für dieselbe zu erfinden. Etwas anderes sind

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/104>, abgerufen am 21.11.2024.