pgo_092.001 denken und empfinden kann, und doch auch wieder individuell genug, daß pgo_092.002 ihr Denken und Empfinden das scharfe Gepräge eines bestimmten pgo_092.003 Charakters trägt. Vor der dichtenden Phantasie schwebt stets ein ganzer pgo_092.004 Zug von Gestalten und Bildern -- je reicher sie ist, desto größer die Fülle pgo_092.005 der Vorstellungen, die über ihre Schwelle tritt! Jn dieser Beziehung ist pgo_092.006 alles Dichten ein rasches und glückliches Wählen, nicht der Kritik, sondern pgo_092.007 der Begeisterung! Von allen diesen Bildern kann nur eins das pgo_092.008 berufene sein, die Jdee zu tragen -- der Genius winkt -- und wie Eisen pgo_092.009 an den Magnet schießt es zu schönem Bund an den Gedanken, während pgo_092.010 die andere dunkle Schaar wieder zum Orkus, in die Nacht der Seele pgo_092.011 hinabsinkt.
pgo_092.012 Die dichterische Phantasie, als Begabung des Einzelnen, hat nun pgo_092.013 ihre bestimmten Grade, nach denen man die Dichtergrößen zu messen pgo_092.014 pflegt. Die künstlerische Begabung überhaupt ist der Jnstinct des Schönen! pgo_092.015 Dieser Jnstinct ist als passiver weit verbreitet, die allgemeine pgo_092.016 Empfänglichkeit, ohne welche dem Künstler das Publikum fehlen würde. pgo_092.017 Der Sinn für das Schöne kann einen hohen Grad erreichen, ohne aus pgo_092.018 der Passivität herauszugehn. Jn der That giebt es dichterische Naturen, pgo_092.019 in denen ein großer Genius schlummert, ohne je zu erwachen! pgo_092.020 Wir glauben zwar nicht, daß Raphael ein großer Maler gewesen, auch pgo_092.021 wenn er ohne Hände geboren worden -- aber er hätte auch so in pgo_092.022 seiner Phantasie die sixtinische Madonna angeschaut! Es kann Menschen pgo_092.023 geben mit der Phantasie, mit dem Weltblick eines Shakespeare -- pgo_092.024 aber ihnen ist nicht die Zunge gelöst, sie tragen diese dichterische camera pgo_092.025 obscura der Welt schweigend herum! Es sind die großen, stummen pgo_092.026 Poeten, die in keine Poetik gehören! Vielleicht versuchen sie zu dichten pgo_092.027 -- aber ihr Sprechen ist nur ein Stottern, und sie bringen die Gedanken, pgo_092.028 die hell vor ihrer Seele stehen, nur in zerhackten Wörtern zu Tage. Sie pgo_092.029 stehen noch jenseits der Grenzen der Dichtkunst; denn diese beginnt erst pgo_092.030 da, wo es ein Gott dem Menschen gab, zu sagen, was er leide. Mit pgo_092.031 diesem "Sagen" wird der Jnstinct des Schönen activ -- wir treten in pgo_092.032 den hellen Tag der dichterischen Begabung.
pgo_092.033 Man unterscheidet die dichterische Begabung als Talent und Genie.pgo_092.034 Talent ist Formgewandtheit, Sicherheit und Geläufigkeit des Denkens, pgo_092.035 Empfindens und Gestaltens, aber mit unbewußter Anlehnung an irgend
pgo_092.001 denken und empfinden kann, und doch auch wieder individuell genug, daß pgo_092.002 ihr Denken und Empfinden das scharfe Gepräge eines bestimmten pgo_092.003 Charakters trägt. Vor der dichtenden Phantasie schwebt stets ein ganzer pgo_092.004 Zug von Gestalten und Bildern — je reicher sie ist, desto größer die Fülle pgo_092.005 der Vorstellungen, die über ihre Schwelle tritt! Jn dieser Beziehung ist pgo_092.006 alles Dichten ein rasches und glückliches Wählen, nicht der Kritik, sondern pgo_092.007 der Begeisterung! Von allen diesen Bildern kann nur eins das pgo_092.008 berufene sein, die Jdee zu tragen — der Genius winkt — und wie Eisen pgo_092.009 an den Magnet schießt es zu schönem Bund an den Gedanken, während pgo_092.010 die andere dunkle Schaar wieder zum Orkus, in die Nacht der Seele pgo_092.011 hinabsinkt.
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/114>, abgerufen am 21.11.2024.
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