pgo_109.001 der Zeit dichten, heißt nicht der Mode huldigen -- die Mode gehört dem pgo_109.002 Tage an, nicht der Kulturepoche des Jahrhunderts. Jm Geiste der Zeit pgo_109.003 dichten, heißt nicht das Ewige verleugnen -- das Ewige geht durch alle pgo_109.004 Zeiten hindurch, die Menschwerdung der Jdee begiebt sich heute, wie vor pgo_109.005 Jahrtausenden; aber das Schöne ist erscheinende Jdee; die Erscheinung pgo_109.006 ist auf diesem Gebiete von gleicher Bedeutung, wie die Jdee selbst. pgo_109.007 Und indem diese untertaucht in den großen Verwandlungsproceß, in die pgo_109.008 ewig neue Gestaltung der Geschichte, empfängt sie von jeder Epoche ein pgo_109.009 anderes Gewand! Während die Jronie des Cervantes und der Welthumor pgo_109.010 Shakespeare's an der Schwelle der neuen Zeit standen, Voltaire pgo_109.011 und Rousseau begabte, aber unkünstlerische Propagandisten derselben pgo_109.012 waren, Schiller und Goethe in einzelnen Werken mit Begeisterung ihre pgo_109.013 Jdeeen verkündigten, in andern wieder sich von der Herrschaft der Antike pgo_109.014 nicht freizumachen verstanden: hat die neueste Zeit, besonders in Lyrik pgo_109.015 und Roman, eine wahrhaft moderne Richtung hervorgerufen, welche den pgo_109.016 Beruf der Poesie erkannt hat, aus dem Leben der Gegenwart zu schöpfen. pgo_109.017 Wenn sie der Begeisterung, den Gedanken und Empfindungen der Neuzeit pgo_109.018 eine künstlerische Form zu geben weiß und das moderne Jdeal mit pgo_109.019 der Weihe des Genius erfaßt: dann wird eine Blüthe der Klassicität pgo_109.020 erreicht werden, gegen welche die unserer klassischen Epoche nur als eine pgo_109.021 verheißungsvolle Vorblüthe erscheinen kann.
pgo_109.022
Fünster Abschnitt.
pgo_109.023 Das dichterische Kunstwerk.
pgo_109.024 Die Phantasie, die einen Stoff aus dem Reiche des Naturschönen pgo_109.025 erfaßt, gestaltet ihn künstlerisch, indem sie ihm eine die Jdee des Schönen pgo_109.026 tragende Erscheinung giebt. Wie das Naturschöne, muß auch das Kunstschönepgo_109.027 eine für die Anschauung lebendige Wirklichkeit haben. Das pgo_109.028 Kunstwerk besteht für die Sinnlichkeit -- die Sinne sind die Agenten pgo_109.029 der Schönheit, welche ihr Kapital in Umlauf setzen. Die Sinnlichkeit pgo_109.030 der Poesie aber ist eine innerliche, ideale; es ist die im Reiche der Vorstellung pgo_109.031 lebendige Sinnlichkeit, deren Formen und Farben nicht mit der pgo_109.032 äußern Frische der Plastik und Malerei wetteifern, deren Klänge, nur
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pgo_109.023 Das dichterische Kunstwerk.
pgo_109.024 Die Phantasie, die einen Stoff aus dem Reiche des Naturschönen pgo_109.025 erfaßt, gestaltet ihn künstlerisch, indem sie ihm eine die Jdee des Schönen pgo_109.026 tragende Erscheinung giebt. Wie das Naturschöne, muß auch das Kunstschönepgo_109.027 eine für die Anschauung lebendige Wirklichkeit haben. Das pgo_109.028 Kunstwerk besteht für die Sinnlichkeit — die Sinne sind die Agenten pgo_109.029 der Schönheit, welche ihr Kapital in Umlauf setzen. Die Sinnlichkeit pgo_109.030 der Poesie aber ist eine innerliche, ideale; es ist die im Reiche der Vorstellung pgo_109.031 lebendige Sinnlichkeit, deren Formen und Farben nicht mit der pgo_109.032 äußern Frische der Plastik und Malerei wetteifern, deren Klänge, nur
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/131>, abgerufen am 21.11.2024.
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