pgo_110.001 dem Bild und Gedanken dienstbar, nicht die freie Selbstständigkeit der pgo_110.002 musikalischen Töne erringen, deren Magie und Wirkung auf den inneren pgo_110.003 Menschen aber durch die potenzirende Kraft der Vergeistigung eine um so pgo_110.004 gewaltigere ist. Jn dieser idealen Sinnlichkeit muß das dichterische pgo_110.005 Kunstwerk eine selbstständige Wirklichkeit haben. Wie jedes Kunstwerk pgo_110.006 ist es eine einzelne Erscheinung, aber als einzelne zugleich einzig.pgo_110.007 Während die einzelnen Dinge der realen Welt ihren wahren Werth nur pgo_110.008 durch den Begriff der Gattung erhalten, der sie angehören und die sie pgo_110.009 zusammen bilden helfen: hat das Kunstwerk als einziges einen unendlichen pgo_110.010 Werth, indem es nicht über sich hinausweist, sondern die ganze pgo_110.011 Jdee lebendig in sich trägt. Das Dichtwerk hat daher als Ganzes seine pgo_110.012 bestimmten Grenzen, die nicht der Zufall festgesetzt hat, die aus seinem pgo_110.013 Wesen hervorgehen. Jnnerhalb dieser Grenzen ist es ein lebendiger pgo_110.014 Organismus, dessen Theile nur durch und für das Ganze bestehen, der pgo_110.015 nach außen eine geschlossene Einheit, nach innen ein reiches, vielgegliedertes, pgo_110.016 aber der einen Seele gehorchendes Leben darstellt.
pgo_110.017 Sehen wir nun zuerst, wie das Dichtwerk entsteht! Was den Dichter pgo_110.018 aus der Stoffwelt anweht, ist zunächst das dichterische Motiv, der pgo_110.019 Stoff, insofern er der Phantasie als geeignet zur künstlerischen Darstellung pgo_110.020 erscheint. Der Stoff wird zum Motiv, indem der Jnstinct des Künstlers pgo_110.021 seine Berechtigung anerkennt. Wir sagen ausdrücklich der Jnstinct; denn pgo_110.022 es ist der erste Blick der genialen Anschauung auf den Stoff, eine Art pgo_110.023 geistiger Brautwahl, die Ueberzeugung, daß es der rechte ist. Das Motiv pgo_110.024 ist der erste Keim des künstlerischen Organismus und auf der anderen pgo_110.025 Seite der erste Hauch der platonischen Liebe in der Seele des Künstlers. pgo_110.026 Jrgend ein historisches Bild, ein Wallenstein, eine Maria Stuart, erscheint pgo_110.027 der Seele des Dramatikers im Schimmer einer Verklärung, die sie seiner pgo_110.028 eigenen Gedanken- und Traumwelt so nahe rückt, daß sein Genius sich pgo_110.029 sehnt, sie in sich aufzunehmen. So wird dem Lyriker irgend eine Stimmung pgo_110.030 zum Motiv seines Gedichtes, dem Romandichter ein Erlebniß pgo_110.031 zum Motiv eines Romanes. Ueber Werth oder Unwerth des Motivs pgo_110.032 kann erst die Ausführung entscheiden, doch kann ein Motiv für den pgo_110.033 einen Dichter werthlos, für den anderen bedeutend sein, je nach Art pgo_110.034 und Richtung der Talente. Die Motive, welche Ludwig Tieck im pgo_110.035 "Octavian" und "Fortunatus" gestaltete, wären für jeden anderen Poeten,
pgo_110.001 dem Bild und Gedanken dienstbar, nicht die freie Selbstständigkeit der pgo_110.002 musikalischen Töne erringen, deren Magie und Wirkung auf den inneren pgo_110.003 Menschen aber durch die potenzirende Kraft der Vergeistigung eine um so pgo_110.004 gewaltigere ist. Jn dieser idealen Sinnlichkeit muß das dichterische pgo_110.005 Kunstwerk eine selbstständige Wirklichkeit haben. Wie jedes Kunstwerk pgo_110.006 ist es eine einzelne Erscheinung, aber als einzelne zugleich einzig.pgo_110.007 Während die einzelnen Dinge der realen Welt ihren wahren Werth nur pgo_110.008 durch den Begriff der Gattung erhalten, der sie angehören und die sie pgo_110.009 zusammen bilden helfen: hat das Kunstwerk als einziges einen unendlichen pgo_110.010 Werth, indem es nicht über sich hinausweist, sondern die ganze pgo_110.011 Jdee lebendig in sich trägt. Das Dichtwerk hat daher als Ganzes seine pgo_110.012 bestimmten Grenzen, die nicht der Zufall festgesetzt hat, die aus seinem pgo_110.013 Wesen hervorgehen. Jnnerhalb dieser Grenzen ist es ein lebendiger pgo_110.014 Organismus, dessen Theile nur durch und für das Ganze bestehen, der pgo_110.015 nach außen eine geschlossene Einheit, nach innen ein reiches, vielgegliedertes, pgo_110.016 aber der einen Seele gehorchendes Leben darstellt.
pgo_110.017 Sehen wir nun zuerst, wie das Dichtwerk entsteht! Was den Dichter pgo_110.018 aus der Stoffwelt anweht, ist zunächst das dichterische Motiv, der pgo_110.019 Stoff, insofern er der Phantasie als geeignet zur künstlerischen Darstellung pgo_110.020 erscheint. Der Stoff wird zum Motiv, indem der Jnstinct des Künstlers pgo_110.021 seine Berechtigung anerkennt. Wir sagen ausdrücklich der Jnstinct; denn pgo_110.022 es ist der erste Blick der genialen Anschauung auf den Stoff, eine Art pgo_110.023 geistiger Brautwahl, die Ueberzeugung, daß es der rechte ist. Das Motiv pgo_110.024 ist der erste Keim des künstlerischen Organismus und auf der anderen pgo_110.025 Seite der erste Hauch der platonischen Liebe in der Seele des Künstlers. pgo_110.026 Jrgend ein historisches Bild, ein Wallenstein, eine Maria Stuart, erscheint pgo_110.027 der Seele des Dramatikers im Schimmer einer Verklärung, die sie seiner pgo_110.028 eigenen Gedanken- und Traumwelt so nahe rückt, daß sein Genius sich pgo_110.029 sehnt, sie in sich aufzunehmen. So wird dem Lyriker irgend eine Stimmung pgo_110.030 zum Motiv seines Gedichtes, dem Romandichter ein Erlebniß pgo_110.031 zum Motiv eines Romanes. Ueber Werth oder Unwerth des Motivs pgo_110.032 kann erst die Ausführung entscheiden, doch kann ein Motiv für den pgo_110.033 einen Dichter werthlos, für den anderen bedeutend sein, je nach Art pgo_110.034 und Richtung der Talente. Die Motive, welche Ludwig Tieck im pgo_110.035 „Octavian“ und „Fortunatus“ gestaltete, wären für jeden anderen Poeten,
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dem Bild und Gedanken dienstbar, nicht die freie Selbstständigkeit der pgo_110.002
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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/132>, abgerufen am 21.11.2024.
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