Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_148.001 Zweiter Abschnitt. pgo_148.002Bilder und Figuren. pgo_148.003 pgo_148.023 pgo_148.001 Zweiter Abschnitt. pgo_148.002Bilder und Figuren. pgo_148.003 pgo_148.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0170" n="148"/> <lb n="pgo_148.001"/> <head> <hi rendition="#c">Zweiter Abschnitt.</hi> </head> <lb n="pgo_148.002"/> <head> <hi rendition="#c">Bilder und Figuren.</hi> </head> <p><lb n="pgo_148.003"/> Wie das Kunstwerk überhaupt in der schönen Mitte zwischen Geist <lb n="pgo_148.004"/> und Sinnenwelt liegt: so strebt auch der dichterische Ausdruck diese Mitte <lb n="pgo_148.005"/> darzustellen, indem er sowohl das Geistige versinnlicht, als auch das <lb n="pgo_148.006"/> Sinnliche vergeistigt. Dies geschieht durch das <hi rendition="#g">Bild,</hi> welches daher <lb n="pgo_148.007"/> kein müßiger Schmuck der Rede, sondern eine innere Nothwendigkeit des <lb n="pgo_148.008"/> dichterischen Schaffens ist. Das <hi rendition="#g">Bild</hi> ist nur die Abbreviatur dessen, <lb n="pgo_148.009"/> was die Dichtung im Ganzen und Großen ist. Die ganze Sprache ist, <lb n="pgo_148.010"/> auch in ihren abstrakten Wendungen, ein Schatz abgeblaßter Bilder, die <lb n="pgo_148.011"/> ihre ursprüngliche sinnliche Bedeutung so verloren haben, daß man bei <lb n="pgo_148.012"/> ihrem Gebrauch sich nicht mehr derselben erinnert, z. B. <hi rendition="#g">begreifen, <lb n="pgo_148.013"/> entfalten.</hi> Sobald der Mensch sich mehr nach innen wendet und <lb n="pgo_148.014"/> immer neue Welten des geistigen Lebens entdeckt, überträgt er unwillkürlich <lb n="pgo_148.015"/> die Bezeichnungen der realen Welt auf die Gegenstände jenes idealen <lb n="pgo_148.016"/> Reiches. Derselbe Jnstinkt, der die Sprache in ihrem Entwickelungsgange <lb n="pgo_148.017"/> bestimmt, bestimmt auch den Dichter in seinem begeisterten Schaffen. <lb n="pgo_148.018"/> Er sucht nicht nach <hi rendition="#g">Bildern;</hi> sie strömen ihm zu, ebenso wie Vers <lb n="pgo_148.019"/> und Reim ihn tragen, ihn inspiriren, nicht hemmen und lähmen. Er <lb n="pgo_148.020"/> denkt, nicht blos in <hi rendition="#g">Tönen,</hi> wie der Dichter sagt, sondern auch in <hi rendition="#g">Bildern</hi> <lb n="pgo_148.021"/> — Rhythmus und Reim sind die <hi rendition="#g">Musik,</hi> das Bild ist die <lb n="pgo_148.022"/> <hi rendition="#g">Malerei</hi> der Sprache.</p> <p><lb n="pgo_148.023"/> Die Lehre von den Bildern und Figuren ist mit einem Aufwande von <lb n="pgo_148.024"/> großem Scharfsinne und mühseliger Gelehrsamkeit bis in's Einzelne ausgebildet <lb n="pgo_148.025"/> worden. Während <hi rendition="#g">Aristoteles, Cicero, Quinctilian</hi> nur <lb n="pgo_148.026"/> einzelne zerstreute Winke über den bildlichen Ausdruck geben, haben <lb n="pgo_148.027"/> spätere Rhetoren und Grammatiker nicht blos alle einzelnen Blumen <lb n="pgo_148.028"/> aus dem Kranze der Sprache herausgerissen, sondern auch diese Blumen <lb n="pgo_148.029"/> selbst wieder zerrupft und zerpflückt und jedes Blumenblättchen einzeln <lb n="pgo_148.030"/> in ihr rhetorisches Herbarium gelegt. Ueber dieser Zerfaserung aller <lb n="pgo_148.031"/> erdenklichen sprachlichen Wendungen, wie sie z. B. im dritten und vierten <lb n="pgo_148.032"/> Buche von <hi rendition="#g">Scaliger's</hi> Poetik oder in der Figurenlehre des <hi rendition="#g">Johannes <lb n="pgo_148.033"/> Bentzius</hi> zu finden ist, verliert man die Hauptgesichtspunkte, das <lb n="pgo_148.034"/> Wesentliche und Unwesentliche, ganz aus den Augen, indem dieser haarspaltende </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [148/0170]
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Zweiter Abschnitt. pgo_148.002
Bilder und Figuren. pgo_148.003
Wie das Kunstwerk überhaupt in der schönen Mitte zwischen Geist pgo_148.004
und Sinnenwelt liegt: so strebt auch der dichterische Ausdruck diese Mitte pgo_148.005
darzustellen, indem er sowohl das Geistige versinnlicht, als auch das pgo_148.006
Sinnliche vergeistigt. Dies geschieht durch das Bild, welches daher pgo_148.007
kein müßiger Schmuck der Rede, sondern eine innere Nothwendigkeit des pgo_148.008
dichterischen Schaffens ist. Das Bild ist nur die Abbreviatur dessen, pgo_148.009
was die Dichtung im Ganzen und Großen ist. Die ganze Sprache ist, pgo_148.010
auch in ihren abstrakten Wendungen, ein Schatz abgeblaßter Bilder, die pgo_148.011
ihre ursprüngliche sinnliche Bedeutung so verloren haben, daß man bei pgo_148.012
ihrem Gebrauch sich nicht mehr derselben erinnert, z. B. begreifen, pgo_148.013
entfalten. Sobald der Mensch sich mehr nach innen wendet und pgo_148.014
immer neue Welten des geistigen Lebens entdeckt, überträgt er unwillkürlich pgo_148.015
die Bezeichnungen der realen Welt auf die Gegenstände jenes idealen pgo_148.016
Reiches. Derselbe Jnstinkt, der die Sprache in ihrem Entwickelungsgange pgo_148.017
bestimmt, bestimmt auch den Dichter in seinem begeisterten Schaffen. pgo_148.018
Er sucht nicht nach Bildern; sie strömen ihm zu, ebenso wie Vers pgo_148.019
und Reim ihn tragen, ihn inspiriren, nicht hemmen und lähmen. Er pgo_148.020
denkt, nicht blos in Tönen, wie der Dichter sagt, sondern auch in Bildern pgo_148.021
— Rhythmus und Reim sind die Musik, das Bild ist die pgo_148.022
Malerei der Sprache.
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Die Lehre von den Bildern und Figuren ist mit einem Aufwande von pgo_148.024
großem Scharfsinne und mühseliger Gelehrsamkeit bis in's Einzelne ausgebildet pgo_148.025
worden. Während Aristoteles, Cicero, Quinctilian nur pgo_148.026
einzelne zerstreute Winke über den bildlichen Ausdruck geben, haben pgo_148.027
spätere Rhetoren und Grammatiker nicht blos alle einzelnen Blumen pgo_148.028
aus dem Kranze der Sprache herausgerissen, sondern auch diese Blumen pgo_148.029
selbst wieder zerrupft und zerpflückt und jedes Blumenblättchen einzeln pgo_148.030
in ihr rhetorisches Herbarium gelegt. Ueber dieser Zerfaserung aller pgo_148.031
erdenklichen sprachlichen Wendungen, wie sie z. B. im dritten und vierten pgo_148.032
Buche von Scaliger's Poetik oder in der Figurenlehre des Johannes pgo_148.033
Bentzius zu finden ist, verliert man die Hauptgesichtspunkte, das pgo_148.034
Wesentliche und Unwesentliche, ganz aus den Augen, indem dieser haarspaltende
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