Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_193.001 Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens, pgo_193.010 Dein Haar dem Fittig des Raben! pgo_193.011 Deine Seele war so edel und mild, pgo_193.012 Wie die Stunde der sinkenden Sonne! pgo_193.013 Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf, pgo_193.014 Gleich dem flüsternden Strome von Lora. pgo_193.015 Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob, pgo_193.016 Warst du wie ein stürmisches Meer. pgo_193.017 pgo_193.001 Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens, pgo_193.010 Dein Haar dem Fittig des Raben! pgo_193.011 Deine Seele war so edel und mild, pgo_193.012 Wie die Stunde der sinkenden Sonne! pgo_193.013 Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf, pgo_193.014 Gleich dem flüsternden Strome von Lora. pgo_193.015 Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob, pgo_193.016 Warst du wie ein stürmisches Meer. pgo_193.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0215" n="193"/><lb n="pgo_193.001"/> umschreibt, sondern einen und denselben Gegenstand von verschiedenen <lb n="pgo_193.002"/> Seiten beleuchtet und jede seiner Eigenschaften durch ein neues Bild verherrlicht. <lb n="pgo_193.003"/> Diese Häufung ist prägnanter und nicht so ermüdend, im <lb n="pgo_193.004"/> Gegentheil für eine warme und farbenreiche Schilderung geeignet. Wir <lb n="pgo_193.005"/> erinnern an die Bilder, mit denen der Sänger des Hohen Liedes jede <lb n="pgo_193.006"/> Schönheit seiner gefeierten Braut preist, oder mit denen <hi rendition="#g">Lord Byron</hi> <lb n="pgo_193.007"/> den schlummernden Don Juan schildert, über den sich seine liebende <lb n="pgo_193.008"/> Haidee neigt. So sagt auch Ossian in seiner <hi rendition="#g">Darthula:</hi></p> <lb n="pgo_193.009"/> <lg> <l>Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens,</l> <lb n="pgo_193.010"/> <l>Dein Haar dem Fittig des Raben!</l> <lb n="pgo_193.011"/> <l>Deine Seele war so edel und mild,</l> <lb n="pgo_193.012"/> <l>Wie die Stunde der sinkenden Sonne!</l> <lb n="pgo_193.013"/> <l>Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf,</l> <lb n="pgo_193.014"/> <l>Gleich dem flüsternden Strome von Lora.</l> <lb n="pgo_193.015"/> <l>Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob,</l> <lb n="pgo_193.016"/> <l>Warst du wie ein stürmisches Meer.</l> </lg> <p><lb n="pgo_193.017"/> Unter <hi rendition="#g">Katachresen</hi> versteht man Verstöße gegen die <hi rendition="#g">Einheit des <lb n="pgo_193.018"/> Bildes,</hi> indem der Dichter entweder aus einem Bild in den eigentlichen <lb n="pgo_193.019"/> Ausdruck oder aus einem Bild in das andere verfällt; ja man hat sogar <lb n="pgo_193.020"/> die Anhäufung ungleichartiger Bilder, die von einem Gegenstand in <lb n="pgo_193.021"/> <hi rendition="#g">einem</hi> oder in <hi rendition="#g">mehreren</hi> zusammenhängenden Sätzen gebraucht werden, <lb n="pgo_193.022"/> für einen solchen Verstoß erklärt. Die <hi rendition="#g">Katachresen</hi> sind Sünden <lb n="pgo_193.023"/> gegen die <hi rendition="#g">Korrektheit</hi> des bildlichen Ausdruckes, gegen eine Forderung <lb n="pgo_193.024"/> der Kunst, welche stets höheren Forderungen nachstehen muß. Einer <lb n="pgo_193.025"/> faden und nüchternen Verstandeskritik bieten sie die willkommensten <lb n="pgo_193.026"/> Handhaben, besonders um sich den Versuchen der Gegenwart gegenüber <lb n="pgo_193.027"/> eine säuberliche Autorität anzueignen. Jn der That beruhen die meisten <lb n="pgo_193.028"/> Katachresen nur auf einer kühneren Jdeeenassociation, welcher die erregte <lb n="pgo_193.029"/> Phantasie mit Freuden folgt; sie sind <hi rendition="#g">Elisionen der Phantasie,</hi> und <lb n="pgo_193.030"/> wie die <hi rendition="#g">grammatischen</hi> und <hi rendition="#g">syntaktischen</hi> dem kühneren Style der <lb n="pgo_193.031"/> Dichtung unentbehrlich. Gerade der höhere, bewegte Odenschwung, der <lb n="pgo_193.032"/> Ausdruck einer großen Leidenschaft in der Tragödie, kann durch solche <lb n="pgo_193.033"/> <hi rendition="#g">Katachresen</hi> eine hinreißende Wirkung erzielen! Oder sollte es ein <lb n="pgo_193.034"/> Zufall sein, daß die großen Dichter aller Zeiten an ihnen so reich sind? <lb n="pgo_193.035"/> Sollten sie nur einer mäkelnden Kritik in die Hände gearbeitet haben? <lb n="pgo_193.036"/> Und waren die Kritiker des humanistischen Zeitalters nicht weiser, als ihre </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [193/0215]
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umschreibt, sondern einen und denselben Gegenstand von verschiedenen pgo_193.002
Seiten beleuchtet und jede seiner Eigenschaften durch ein neues Bild verherrlicht. pgo_193.003
Diese Häufung ist prägnanter und nicht so ermüdend, im pgo_193.004
Gegentheil für eine warme und farbenreiche Schilderung geeignet. Wir pgo_193.005
erinnern an die Bilder, mit denen der Sänger des Hohen Liedes jede pgo_193.006
Schönheit seiner gefeierten Braut preist, oder mit denen Lord Byron pgo_193.007
den schlummernden Don Juan schildert, über den sich seine liebende pgo_193.008
Haidee neigt. So sagt auch Ossian in seiner Darthula:
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Dein Antlitz glich dem Lichte des Morgens, pgo_193.010
Dein Haar dem Fittig des Raben! pgo_193.011
Deine Seele war so edel und mild, pgo_193.012
Wie die Stunde der sinkenden Sonne! pgo_193.013
Deine Worte glichen dem Lüftchen im Schilf, pgo_193.014
Gleich dem flüsternden Strome von Lora. pgo_193.015
Doch wenn das Tosen der Schlacht sich erhob, pgo_193.016
Warst du wie ein stürmisches Meer.
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Unter Katachresen versteht man Verstöße gegen die Einheit des pgo_193.018
Bildes, indem der Dichter entweder aus einem Bild in den eigentlichen pgo_193.019
Ausdruck oder aus einem Bild in das andere verfällt; ja man hat sogar pgo_193.020
die Anhäufung ungleichartiger Bilder, die von einem Gegenstand in pgo_193.021
einem oder in mehreren zusammenhängenden Sätzen gebraucht werden, pgo_193.022
für einen solchen Verstoß erklärt. Die Katachresen sind Sünden pgo_193.023
gegen die Korrektheit des bildlichen Ausdruckes, gegen eine Forderung pgo_193.024
der Kunst, welche stets höheren Forderungen nachstehen muß. Einer pgo_193.025
faden und nüchternen Verstandeskritik bieten sie die willkommensten pgo_193.026
Handhaben, besonders um sich den Versuchen der Gegenwart gegenüber pgo_193.027
eine säuberliche Autorität anzueignen. Jn der That beruhen die meisten pgo_193.028
Katachresen nur auf einer kühneren Jdeeenassociation, welcher die erregte pgo_193.029
Phantasie mit Freuden folgt; sie sind Elisionen der Phantasie, und pgo_193.030
wie die grammatischen und syntaktischen dem kühneren Style der pgo_193.031
Dichtung unentbehrlich. Gerade der höhere, bewegte Odenschwung, der pgo_193.032
Ausdruck einer großen Leidenschaft in der Tragödie, kann durch solche pgo_193.033
Katachresen eine hinreißende Wirkung erzielen! Oder sollte es ein pgo_193.034
Zufall sein, daß die großen Dichter aller Zeiten an ihnen so reich sind? pgo_193.035
Sollten sie nur einer mäkelnden Kritik in die Hände gearbeitet haben? pgo_193.036
Und waren die Kritiker des humanistischen Zeitalters nicht weiser, als ihre
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