Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_223.001 Still war's und jedes Ohr hing an Aeneens Munde, pgo_223.032
Der also anhub vom erhab'nen Pfühl: pgo_223.033 O Königin, du weckst der alten Wunde pgo_223.034 Unnennbar schmerzliches Gefühl! pgo_223.035 Von Trojas kläglichem Geschick verlangst du Kunde, pgo_223.036 Wie durch der Griechen Hand die Thränenwerthe fiel. pgo_223.001 Still war's und jedes Ohr hing an Aeneens Munde, pgo_223.032
Der also anhub vom erhab'nen Pfühl: pgo_223.033 O Königin, du weckst der alten Wunde pgo_223.034 Unnennbar schmerzliches Gefühl! pgo_223.035 Von Trojas kläglichem Geschick verlangst du Kunde, pgo_223.036 Wie durch der Griechen Hand die Thränenwerthe fiel. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <pb facs="#f0245" n="223"/> <p><lb n="pgo_223.001"/> Diese Strophe hat, durch die sich suchenden und fliehenden Reime <lb n="pgo_223.002"/> einen anmuthigen Wogenschlag, der sich durch den zusammentönenden <lb n="pgo_223.003"/> Akkord der letzten Verse beruhigt. Der voll heraus blühende Reimstrauß <lb n="pgo_223.004"/> hat etwas Luxuriöses, das sie im Deutschen wohl zu Widmungsversen, <lb n="pgo_223.005"/> Prologen, gedankenvollen Apostrophen, aber nicht zu größeren epischen <lb n="pgo_223.006"/> Gedichten geeignet macht. Anders verhält es sich in den romanischen <lb n="pgo_223.007"/> Sprachen, wo die Reimfülle der Sprache selbst in diesen Strophen ausschäumt. <lb n="pgo_223.008"/> Hier liegt ihr epischer Charakter darin, daß die sechs ersten <lb n="pgo_223.009"/> Zeilen mit den verschlungenen Reimen eine hinundhergehende, behagliche <lb n="pgo_223.010"/> Schilderung gestatten, welche durch die beiden letzten wieder in dem <lb n="pgo_223.011"/> strophischen Rahmen festgehalten wird. Bekanntlich hat <hi rendition="#g">Tasso</hi> sein <lb n="pgo_223.012"/> „befreites Jerusalem,“ <hi rendition="#g">Ariosto</hi> seinen „rasenden Roland,“ Camoëns <lb n="pgo_223.013"/> seine „Lusiade“ in diesen Strophen gedichtet; von neueren deutschen <lb n="pgo_223.014"/> Dichtern <hi rendition="#g">Ernst Schulze</hi> sein kleines, zartes, aber auch phantastisch verschwimmendes <lb n="pgo_223.015"/> Epos: <hi rendition="#g">die bezauberte Rose.</hi> Die Ueberzeugung, daß <lb n="pgo_223.016"/> die <foreign xml:lang="ita">ottave rime</foreign> der deutschen Originaldichtung bei längerer epischer <lb n="pgo_223.017"/> Ausdehnung eine allzugroße Monotonie geben würden, hat <hi rendition="#g">Wieland</hi> <lb n="pgo_223.018"/> zum Bau einer Strophe angeregt, welche wir, nach seinem „Oberon,“ <lb n="pgo_223.019"/> in dem sie angewendet ist, wohl die <hi rendition="#g">Oberonsstrophe</hi> nennen dürfen. <lb n="pgo_223.020"/> Sie besteht ebenfalls aus acht jambischen Zeilen, aber die Zahl der Versfüße <lb n="pgo_223.021"/> schwankt beliebig zwischen vier, fünf und sechs, die Reime können <lb n="pgo_223.022"/> einmal oder zweimal wiederkehren und dabei willkürlich verschlungen <lb n="pgo_223.023"/> sein. Die strengen <foreign xml:lang="ita"><hi rendition="#g">ottave rime</hi></foreign> sind daher nur eine mögliche Form <lb n="pgo_223.024"/> ihrer zahlreichen Kombinationen, welche in der That unter der Hand <lb n="pgo_223.025"/> eines großen Talentes einen außerordentlichen malerischen Reichthum <lb n="pgo_223.026"/> entfalten können. Diese Strophe scheint uns in der neuern Zeit mit <lb n="pgo_223.027"/> Unrecht mißachtet zu sein. Sie ist für eine größere epische Dichtung <lb n="pgo_223.028"/> durch ihre anschmiegende Vielseitigkeit sehr angemessen. Außer <hi rendition="#g">Wieland</hi> <lb n="pgo_223.029"/> hat sie von unsern großen Dichtern auch <hi rendition="#g">Schiller</hi> bei seiner <lb n="pgo_223.030"/> Uebersetzung des Virgil benützt:</p> <lb n="pgo_223.031"/> <lg> <l>Still war's und jedes Ohr hing an Aeneens Munde,</l> <lb n="pgo_223.032"/> <l>Der also anhub vom erhab'nen Pfühl:</l> <lb n="pgo_223.033"/> <l>O Königin, du weckst der alten Wunde</l> <lb n="pgo_223.034"/> <l>Unnennbar schmerzliches Gefühl!</l> <lb n="pgo_223.035"/> <l>Von Trojas kläglichem Geschick verlangst du Kunde,</l> <lb n="pgo_223.036"/> <l>Wie durch der Griechen Hand die Thränenwerthe fiel.</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [223/0245]
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Diese Strophe hat, durch die sich suchenden und fliehenden Reime pgo_223.002
einen anmuthigen Wogenschlag, der sich durch den zusammentönenden pgo_223.003
Akkord der letzten Verse beruhigt. Der voll heraus blühende Reimstrauß pgo_223.004
hat etwas Luxuriöses, das sie im Deutschen wohl zu Widmungsversen, pgo_223.005
Prologen, gedankenvollen Apostrophen, aber nicht zu größeren epischen pgo_223.006
Gedichten geeignet macht. Anders verhält es sich in den romanischen pgo_223.007
Sprachen, wo die Reimfülle der Sprache selbst in diesen Strophen ausschäumt. pgo_223.008
Hier liegt ihr epischer Charakter darin, daß die sechs ersten pgo_223.009
Zeilen mit den verschlungenen Reimen eine hinundhergehende, behagliche pgo_223.010
Schilderung gestatten, welche durch die beiden letzten wieder in dem pgo_223.011
strophischen Rahmen festgehalten wird. Bekanntlich hat Tasso sein pgo_223.012
„befreites Jerusalem,“ Ariosto seinen „rasenden Roland,“ Camoëns pgo_223.013
seine „Lusiade“ in diesen Strophen gedichtet; von neueren deutschen pgo_223.014
Dichtern Ernst Schulze sein kleines, zartes, aber auch phantastisch verschwimmendes pgo_223.015
Epos: die bezauberte Rose. Die Ueberzeugung, daß pgo_223.016
die ottave rime der deutschen Originaldichtung bei längerer epischer pgo_223.017
Ausdehnung eine allzugroße Monotonie geben würden, hat Wieland pgo_223.018
zum Bau einer Strophe angeregt, welche wir, nach seinem „Oberon,“ pgo_223.019
in dem sie angewendet ist, wohl die Oberonsstrophe nennen dürfen. pgo_223.020
Sie besteht ebenfalls aus acht jambischen Zeilen, aber die Zahl der Versfüße pgo_223.021
schwankt beliebig zwischen vier, fünf und sechs, die Reime können pgo_223.022
einmal oder zweimal wiederkehren und dabei willkürlich verschlungen pgo_223.023
sein. Die strengen ottave rime sind daher nur eine mögliche Form pgo_223.024
ihrer zahlreichen Kombinationen, welche in der That unter der Hand pgo_223.025
eines großen Talentes einen außerordentlichen malerischen Reichthum pgo_223.026
entfalten können. Diese Strophe scheint uns in der neuern Zeit mit pgo_223.027
Unrecht mißachtet zu sein. Sie ist für eine größere epische Dichtung pgo_223.028
durch ihre anschmiegende Vielseitigkeit sehr angemessen. Außer Wieland pgo_223.029
hat sie von unsern großen Dichtern auch Schiller bei seiner pgo_223.030
Uebersetzung des Virgil benützt:
pgo_223.031
Still war's und jedes Ohr hing an Aeneens Munde, pgo_223.032
Der also anhub vom erhab'nen Pfühl: pgo_223.033
O Königin, du weckst der alten Wunde pgo_223.034
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Wie durch der Griechen Hand die Thränenwerthe fiel.
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