Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.
pgo_003.001 pgo_003.018 *) pgo_003.033
Arist. Poet. keph. 2: etoi beltionas \e kad'emas, \e kheironas, \e pgo_003.034 kai toioutous anagke mimeisthai, und am Ende: e de (tragodia) beltious mimeisthai pgo_003.035 bouletai tonnun.
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Arist. Poet. κεφ. 2: ἤτοι βελτίονας \̓η καδ'ἡμᾶς, \̓η χείρονας, \̓η pgo_003.034 καὶ τοιούτους ἀνάγκη μιμεῖσθαι, und am Ende: ἡ δε (τραγῳδία) βελτίους μιμείσθαι pgo_003.035 βούλεται τῶννῦν. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0025" n="3"/><lb n="pgo_003.001"/> gung der Leidenschaften durch die Tragödie,</hi> von ihrer <hi rendition="#g">Verwickelung <lb n="pgo_003.002"/> und Auflösung</hi> ein für allemal die Bahn gebrochen. <lb n="pgo_003.003"/> Daß seine Lehre zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist bekannt; <lb n="pgo_003.004"/> die französische Dramatik erstarrte durch ihre einseitige Auffassung, und <lb n="pgo_003.005"/> erst ein verwandter, scharf denkender und sondernder Geist, wie <hi rendition="#g">Lessing,</hi> <lb n="pgo_003.006"/> legte ihren Kern, befreit von den vergänglichen Schlacken, dem prüfenden <lb n="pgo_003.007"/> Auge dar. Daß Aristoteles die Kunst aus dem Triebe der <hi rendition="#g">Nachahmung</hi> <lb n="pgo_003.008"/> (<foreign xml:lang="grc">μίμησις</foreign>) gleich in den ersten Kapiteln seiner Poetik ableitet, hat nicht <lb n="pgo_003.009"/> nur die ästhetischen Verirrungen eines Batteux hervorgerufen, sondern <lb n="pgo_003.010"/> könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben. <lb n="pgo_003.011"/> Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser „Nachahmung“ ein <lb n="pgo_003.012"/> bloßes Abschreiben der Wirklichkeit zu verstehn. Sonst würde er weder <lb n="pgo_003.013"/> vom Dichter verlangen können, daß er im Trauerspiel <hi rendition="#g">bessere</hi> Menschen, <lb n="pgo_003.014"/> als seine Zeitgenossen, nachahmen solle <note xml:id="PGO_003_1" place="foot" n="*)"><lb n="pgo_003.033"/><hi rendition="#g">Arist. Poet.</hi><foreign xml:lang="grc">κεφ</foreign>. 2: <hi rendition="#g"><foreign xml:lang="grc">ἤτοι βελτίονας \̓η</foreign><foreign xml:lang="grc">καδ</foreign></hi>'<hi rendition="#g"><foreign xml:lang="grc">ἡμᾶς</foreign></hi>,<foreign xml:lang="grc"> \̓η χείρονας, \̓η</foreign><lb n="pgo_003.034"/><foreign xml:lang="grc">καὶ τοιούτους ἀνάγκη μιμεῖσθαι</foreign>, und am Ende: <foreign xml:lang="grc">ἡ δε</foreign> (<foreign xml:lang="grc">τραγῳδία</foreign>) <foreign xml:lang="grc">βελτίους μιμείσθαι</foreign> <lb n="pgo_003.035"/> <foreign xml:lang="grc">βούλεται τῶν</foreign><hi rendition="#g"><foreign xml:lang="grc">νῦν</foreign></hi>.</note>─ eine Stelle, aus der sich <lb n="pgo_003.015"/> schon die Schiefheit des deutschen Ausdruckes „<hi rendition="#g">nachahmen</hi>“ hinlänglich <lb n="pgo_003.016"/> ergiebt — noch den physikalischen Poeten (<foreign xml:lang="grc">φυσιόλογοι</foreign>), welche blos Natur <lb n="pgo_003.017"/> schildern, allen dichterischen Werth absprechen.</p> <p><lb n="pgo_003.018"/> Die Bedeutung dieser philosophischen Dioskuren Griechenlands ist <lb n="pgo_003.019"/> nun in Jahrhunderten nicht wieder erreicht worden. Die Neuplatoniker, <lb n="pgo_003.020"/> wie <hi rendition="#g">Plotin</hi> und <hi rendition="#g">Proklus,</hi> führten nur die platonischen Jdeeen weiter <lb n="pgo_003.021"/> aus und verwischten zum Theil ihr Gepräge, indem sie die Jdee des <lb n="pgo_003.022"/> Schönen in einen abstracten Begriff verwandelten; andere, wie <hi rendition="#g">Longin</hi> in <lb n="pgo_003.023"/> seiner bekannten Schrift „über das Erhabene“ und <hi rendition="#g">Quinctilian,</hi> hatten <lb n="pgo_003.024"/> nur rhetorische Zwecke, nur die Bildung des Redners vor Augen. Die <lb n="pgo_003.025"/> Poetik selbst verwandelte sich in eine Receptirkunst und behielt diese Gestalt <lb n="pgo_003.026"/> lange Jahrhunderte hindurch, indem sie bald in genialen Aperçu's, bald <lb n="pgo_003.027"/> in dürrem Formalismus aufging. Der geistvollste dieser Receptenschreiber <lb n="pgo_003.028"/> bleibt immer der weltmännische <hi rendition="#g">Quintus Flaccus Horatius</hi> in <lb n="pgo_003.029"/> seiner „<hi rendition="#g">ars poetica</hi>,“ in welcher er mit jenem liebenswürdigen dichterischen <lb n="pgo_003.030"/> Conversationstone, der ihn auszeichnet, die Pisonen über die <lb n="pgo_003.031"/> Dichtkunst unterrichtet. Ein Weltmann ist in der Regel ein schlechter <lb n="pgo_003.032"/> Systematiker — und so darf man bei Horaz keinen wissenschaftlichen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [3/0025]
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gung der Leidenschaften durch die Tragödie, von ihrer Verwickelung pgo_003.002
und Auflösung ein für allemal die Bahn gebrochen. pgo_003.003
Daß seine Lehre zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war, ist bekannt; pgo_003.004
die französische Dramatik erstarrte durch ihre einseitige Auffassung, und pgo_003.005
erst ein verwandter, scharf denkender und sondernder Geist, wie Lessing, pgo_003.006
legte ihren Kern, befreit von den vergänglichen Schlacken, dem prüfenden pgo_003.007
Auge dar. Daß Aristoteles die Kunst aus dem Triebe der Nachahmung pgo_003.008
(μίμησις) gleich in den ersten Kapiteln seiner Poetik ableitet, hat nicht pgo_003.009
nur die ästhetischen Verirrungen eines Batteux hervorgerufen, sondern pgo_003.010
könnte auch dem modernen Realismus eine scheinbare Begründung geben. pgo_003.011
Doch ist Aristoteles weit davon entfernt, unter dieser „Nachahmung“ ein pgo_003.012
bloßes Abschreiben der Wirklichkeit zu verstehn. Sonst würde er weder pgo_003.013
vom Dichter verlangen können, daß er im Trauerspiel bessere Menschen, pgo_003.014
als seine Zeitgenossen, nachahmen solle *)─ eine Stelle, aus der sich pgo_003.015
schon die Schiefheit des deutschen Ausdruckes „nachahmen“ hinlänglich pgo_003.016
ergiebt — noch den physikalischen Poeten (φυσιόλογοι), welche blos Natur pgo_003.017
schildern, allen dichterischen Werth absprechen.
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Die Bedeutung dieser philosophischen Dioskuren Griechenlands ist pgo_003.019
nun in Jahrhunderten nicht wieder erreicht worden. Die Neuplatoniker, pgo_003.020
wie Plotin und Proklus, führten nur die platonischen Jdeeen weiter pgo_003.021
aus und verwischten zum Theil ihr Gepräge, indem sie die Jdee des pgo_003.022
Schönen in einen abstracten Begriff verwandelten; andere, wie Longin in pgo_003.023
seiner bekannten Schrift „über das Erhabene“ und Quinctilian, hatten pgo_003.024
nur rhetorische Zwecke, nur die Bildung des Redners vor Augen. Die pgo_003.025
Poetik selbst verwandelte sich in eine Receptirkunst und behielt diese Gestalt pgo_003.026
lange Jahrhunderte hindurch, indem sie bald in genialen Aperçu's, bald pgo_003.027
in dürrem Formalismus aufging. Der geistvollste dieser Receptenschreiber pgo_003.028
bleibt immer der weltmännische Quintus Flaccus Horatius in pgo_003.029
seiner „ars poetica,“ in welcher er mit jenem liebenswürdigen dichterischen pgo_003.030
Conversationstone, der ihn auszeichnet, die Pisonen über die pgo_003.031
Dichtkunst unterrichtet. Ein Weltmann ist in der Regel ein schlechter pgo_003.032
Systematiker — und so darf man bei Horaz keinen wissenschaftlichen
*) pgo_003.033
Arist. Poet. κεφ. 2: ἤτοι βελτίονας \̓η καδ'ἡμᾶς, \̓η χείρονας, \̓η pgo_003.034
καὶ τοιούτους ἀνάγκη μιμεῖσθαι, und am Ende: ἡ δε (τραγῳδία) βελτίους μιμείσθαι pgo_003.035
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