Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_302.001 pgo_302.009 Vierter Abschnitt. pgo_302.010Die Lyrik der Reflexion: die Elegie. pgo_302.011 pgo_302.031 pgo_302.001 pgo_302.009 Vierter Abschnitt. pgo_302.010Die Lyrik der Reflexion: die Elegie. pgo_302.011 pgo_302.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0324" n="302"/><lb n="pgo_302.001"/> in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff <lb n="pgo_302.002"/> der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden <lb n="pgo_302.003"/> Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren <lb n="pgo_302.004"/> lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, <lb n="pgo_302.005"/> als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender <lb n="pgo_302.006"/> Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten <lb n="pgo_302.007"/> Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge <lb n="pgo_302.008"/> zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> <div n="4"> <lb n="pgo_302.009"/> <head> <hi rendition="#c">Vierter Abschnitt.</hi> </head> <lb n="pgo_302.010"/> <head> <hi rendition="#c">Die Lyrik der Reflexion: die Elegie.</hi> </head> <p><lb n="pgo_302.011"/> Der lyrische Dichter kann nicht blos der <hi rendition="#g">Empfindung</hi> im <hi rendition="#g">Lied</hi> <lb n="pgo_302.012"/> einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit <lb n="pgo_302.013"/> schwunghafter <hi rendition="#g">Begeisterung</hi> große Gedanken und kühne Bilder im <lb n="pgo_302.014"/> Flug der <hi rendition="#g">Ode erhaschen</hi> — er kann auch sein Denken und Empfinden <lb n="pgo_302.015"/> in einer Kette zusammenhängender Bilder <hi rendition="#g">ausspinnen.</hi> Während das <lb n="pgo_302.016"/> <hi rendition="#g">Lied</hi> und die <hi rendition="#g">Ode</hi> eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, <lb n="pgo_302.017"/> um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des <lb n="pgo_302.018"/> schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die <hi rendition="#g">Elegie</hi> <lb n="pgo_302.019"/> in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden <lb n="pgo_302.020"/> Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen <lb n="pgo_302.021"/> lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört <lb n="pgo_302.022"/> zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen <lb n="pgo_302.023"/> Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, <lb n="pgo_302.024"/> als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung <lb n="pgo_302.025"/> vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen <lb n="pgo_302.026"/> durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik <lb n="pgo_302.027"/> gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, <lb n="pgo_302.028"/> daß wir den Ausdruck: <hi rendition="#g">Elegie,</hi> dem gewöhnlich eine engere Bedeutung <lb n="pgo_302.029"/> gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen <lb n="pgo_302.030"/> Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.</p> <p><lb n="pgo_302.031"/> Das griechische Wort: <hi rendition="#g">Elegos</hi> (<foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign>) bedeutet allerdings zunächst </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [302/0324]
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in einer gehobenen Stimmung befindet! Selbst ein unruhiger Krankheitsstoff pgo_302.002
der Zeit und des Herzens kann vorübergehend in einer ausstürmenden pgo_302.003
Dithyrambe mit ausgähren! Wir machen auf alle diese höheren pgo_302.004
lyrischen Gattungen die Talente der Gegenwart um so mehr aufmerksam, pgo_302.005
als die liederartige, an das Klavier gebannte Lyrik so sehr in erdrückender pgo_302.006
Massenhaftigkeit vorherrscht, daß unter dem Banne ihrer weitverbreiteten pgo_302.007
Trivialität die originelleren Formen der Lyrik, die ein genialeres Gepräge pgo_302.008
zulassen, fast in Vergessenheit zu gerathen drohn.
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Vierter Abschnitt. pgo_302.010
Die Lyrik der Reflexion: die Elegie. pgo_302.011
Der lyrische Dichter kann nicht blos der Empfindung im Lied pgo_302.012
einen koncentrirten und musikalischen Ausdruck geben, nicht blos mit pgo_302.013
schwunghafter Begeisterung große Gedanken und kühne Bilder im pgo_302.014
Flug der Ode erhaschen — er kann auch sein Denken und Empfinden pgo_302.015
in einer Kette zusammenhängender Bilder ausspinnen. Während das pgo_302.016
Lied und die Ode eine schlagende Kürze des Ausdrucks verlangen, jenes, pgo_302.017
um die unmittelbare Empfindung zu treffen, diese, um der Energie des pgo_302.018
schwunghaft aufgeregten Geistes gerecht zu werden: darf sich die Elegie pgo_302.019
in freien, ungehemmten Ergüssen ergehn, mit mehr Ruhe die vorschwebenden pgo_302.020
Bilder ausmalen, alle angeschlagenen Saiten voller austönen pgo_302.021
lassen; ja dieser Wellenschlag der hinundhergehenden Empfindung gehört pgo_302.022
zu ihrem eigensten Wesen. Jndem hier der Ausbreitung des dichterischen pgo_302.023
Geistes mehr Raum gegeben, indem ihm sowohl das schildernde Verweilen, pgo_302.024
als das sinnige Vertiefen gestattet wird, eignet sich diese Gattung pgo_302.025
vorzugsweise für eine Epoche der Gedankenbildung, die mancherlei Vermittelungen pgo_302.026
durchlaufen hat, und der größte Theil der modernen Lyrik pgo_302.027
gehört in ihren Kreis. Zunächst aber müssen wir historisch rechtfertigen, pgo_302.028
daß wir den Ausdruck: Elegie, dem gewöhnlich eine engere Bedeutung pgo_302.029
gegeben wird, zur Bezeichnung dieser umfangreichen lyrischen pgo_302.030
Gattung, ja der ganzen Gedankenpoesie der Gegenwart anwenden.
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Das griechische Wort: Elegos (ἔλεγος) bedeutet allerdings zunächst
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