Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_367.001 pgo_367.005 3. Das religiöse Epos. pgo_367.006 pgo_367.020 pgo_367.001 pgo_367.005 3. Das religiöse Epos. pgo_367.006 pgo_367.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0389" n="367"/><lb n="pgo_367.001"/> bedürfte Redwitz eines neuen Meister Ludoviko, der seine Charaktere <lb n="pgo_367.002"/> mit hyperbolischem Humor aufbliese und ausweitete, und sein Held <lb n="pgo_367.003"/> Jungwalter, der aufdringlich predigerhafte Ritter, eines neuen <hi rendition="#g">Astolf,</hi> <lb n="pgo_367.004"/> der ihm seinen Verstand in einer Flasche vom Monde herunterholte!</p> </div> <div n="5"> <lb n="pgo_367.005"/> <head> <hi rendition="#c">3. Das religiöse Epos.</hi> </head> <p><lb n="pgo_367.006"/> Das <hi rendition="#g">religiöse Epos</hi> benutzt die Gestalten des Glaubens nicht als <lb n="pgo_367.007"/> eine in die Geschicke der Menschen eingreifende Göttermaschinerie, sondern <lb n="pgo_367.008"/> es macht sie zu selbstständigen Helden großer Dichtungen! Gehören diese <lb n="pgo_367.009"/> Gestalten dem dogmatischen Kreise des christlichen Glaubens an, so liegt <lb n="pgo_367.010"/> die Gefahr nahe, daß die epische Plastik verloren geht, daß an ihre Stelle <lb n="pgo_367.011"/> verschwimmende Umrisse treten, indem die Jnnerlichkeit und Vergeistigung <lb n="pgo_367.012"/> dieser Religion keine Skulpturbilder der Vorstellung duldet. Auf <lb n="pgo_367.013"/> der andern Seite schien dem Kunstepos eine neue Volksthümlichkeit zu <lb n="pgo_367.014"/> erblühn, indem es religiöse Stoffe wählte, welche im Herzen der Nation, <lb n="pgo_367.015"/> im Herzen der ganzen Christenheit lebendig waren. Die große Trias <lb n="pgo_367.016"/> der religiösen Ependichter <hi rendition="#g">Dante, Milton</hi> und <hi rendition="#g">Klopstock</hi> hat, bei <lb n="pgo_367.017"/> aller Bedeutung ihres Genius, die erste Klippe nicht vermeiden können, <lb n="pgo_367.018"/> aber ebenso durch die Wahl ihrer Stoffe eine tiefgreifende Volksthümlichkeit <lb n="pgo_367.019"/> gewonnen.</p> <p><lb n="pgo_367.020"/><hi rendition="#g">Dante</hi> und <hi rendition="#g">Milton</hi> haben vor Klopstock voraus, daß ihre religiösen <lb n="pgo_367.021"/> Epen zugleich eine <hi rendition="#g">politische</hi> Bedeutung haben, daß Dante die hervorragendsten <lb n="pgo_367.022"/> Männer seiner Zeit vor das erhabene Tribunal seiner weltgerichtlichen <lb n="pgo_367.023"/> Muse lud, daß <hi rendition="#g">Milton</hi> seinen kühnen puritanischen Rebellengeist <lb n="pgo_367.024"/> dem höllischen <hi rendition="#g">Lucifer</hi> lieh. <hi rendition="#g">Dante</hi> hat sich in seiner „göttlichen <lb n="pgo_367.025"/> Komödie,“ hervorgerufen durch die antiken Vorbilder, die Homerische <lb n="pgo_367.026"/> und Virgilische Schilderung der Unterwelt, auf welche er die Ueberlieferungen <lb n="pgo_367.027"/> seines Glaubens übertrug, von allen diesen Dichtern die größte <lb n="pgo_367.028"/> Freiheit der Phantasie bewahrt und verdankt der religiösen Vorstellung <lb n="pgo_367.029"/> nur den jenseitigen Kosmos, den er frei mit den Gestalten seiner Einbildungskraft <lb n="pgo_367.030"/> bevölkert. Die Weltgeschichte als Weltgericht in das Jenseits <lb n="pgo_367.031"/> verlegt, — das ist der Stoff seiner großartigen und unerschöpflichen <lb n="pgo_367.032"/> Jntuition in der <foreign xml:lang="lat">divina commedia</foreign>. Dabei war dieser große Ghibelline <lb n="pgo_367.033"/> volksthümlich in des Wortes strengster Bedeutung! Denn gerade was <lb n="pgo_367.034"/> ihn zum Liebling der heutigen gelehrten Analyse macht, die bis in's </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [367/0389]
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bedürfte Redwitz eines neuen Meister Ludoviko, der seine Charaktere pgo_367.002
mit hyperbolischem Humor aufbliese und ausweitete, und sein Held pgo_367.003
Jungwalter, der aufdringlich predigerhafte Ritter, eines neuen Astolf, pgo_367.004
der ihm seinen Verstand in einer Flasche vom Monde herunterholte!
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3. Das religiöse Epos. pgo_367.006
Das religiöse Epos benutzt die Gestalten des Glaubens nicht als pgo_367.007
eine in die Geschicke der Menschen eingreifende Göttermaschinerie, sondern pgo_367.008
es macht sie zu selbstständigen Helden großer Dichtungen! Gehören diese pgo_367.009
Gestalten dem dogmatischen Kreise des christlichen Glaubens an, so liegt pgo_367.010
die Gefahr nahe, daß die epische Plastik verloren geht, daß an ihre Stelle pgo_367.011
verschwimmende Umrisse treten, indem die Jnnerlichkeit und Vergeistigung pgo_367.012
dieser Religion keine Skulpturbilder der Vorstellung duldet. Auf pgo_367.013
der andern Seite schien dem Kunstepos eine neue Volksthümlichkeit zu pgo_367.014
erblühn, indem es religiöse Stoffe wählte, welche im Herzen der Nation, pgo_367.015
im Herzen der ganzen Christenheit lebendig waren. Die große Trias pgo_367.016
der religiösen Ependichter Dante, Milton und Klopstock hat, bei pgo_367.017
aller Bedeutung ihres Genius, die erste Klippe nicht vermeiden können, pgo_367.018
aber ebenso durch die Wahl ihrer Stoffe eine tiefgreifende Volksthümlichkeit pgo_367.019
gewonnen.
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Dante und Milton haben vor Klopstock voraus, daß ihre religiösen pgo_367.021
Epen zugleich eine politische Bedeutung haben, daß Dante die hervorragendsten pgo_367.022
Männer seiner Zeit vor das erhabene Tribunal seiner weltgerichtlichen pgo_367.023
Muse lud, daß Milton seinen kühnen puritanischen Rebellengeist pgo_367.024
dem höllischen Lucifer lieh. Dante hat sich in seiner „göttlichen pgo_367.025
Komödie,“ hervorgerufen durch die antiken Vorbilder, die Homerische pgo_367.026
und Virgilische Schilderung der Unterwelt, auf welche er die Ueberlieferungen pgo_367.027
seines Glaubens übertrug, von allen diesen Dichtern die größte pgo_367.028
Freiheit der Phantasie bewahrt und verdankt der religiösen Vorstellung pgo_367.029
nur den jenseitigen Kosmos, den er frei mit den Gestalten seiner Einbildungskraft pgo_367.030
bevölkert. Die Weltgeschichte als Weltgericht in das Jenseits pgo_367.031
verlegt, — das ist der Stoff seiner großartigen und unerschöpflichen pgo_367.032
Jntuition in der divina commedia. Dabei war dieser große Ghibelline pgo_367.033
volksthümlich in des Wortes strengster Bedeutung! Denn gerade was pgo_367.034
ihn zum Liebling der heutigen gelehrten Analyse macht, die bis in's
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