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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Entwicklung erscheint entweder als bekannt, wenn das Stück auf einem pgo_445.002
volksthümlichen Mythos beruht, oder sie wird von einer Göttin im Prolog, pgo_445.003
oder einer der handelnden Personen vorgetragen. Die entscheidenden pgo_445.004
Thaten selbst geschehn hinter der Scene und werden ebenfalls erzählt. pgo_445.005
Was große Genien in dieser Form geleistet, hat sich Unsterblichkeit errungen; pgo_445.006
aber vergeblich war stets das Bemühn, diese Form selbst nachzuahmen pgo_445.007
oder neu zu erwecken.

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Der Jnhalt der hellenischen Tragödie war vorzugsweise ein mythischer. pgo_445.009
Die Stoffe waren traditionell, gehörten besonders dem thebanischen pgo_445.010
und mykenischen Sagenkreise an, der mit dem trojanischen pgo_445.011
zusammenhing, und wurden von den verschiedensten Dichtern behandelt. pgo_445.012
Nur Aeschylos in den "Persern" nahm den Anlauf zu einer historischen, pgo_445.013
Agathon
in seinen nicht erhaltenen Stücken zu einer ganz pgo_445.014
fingirten
Tragödie. Von den drei großen Tragikern der Griechen ist pgo_445.015
Aeschylos*) der gewaltigste, der größte dichterische Genius, eine pgo_445.016
Mischung von Pindar und Shakespeare, doch ihn hemmte noch mehr als pgo_445.017
seine Nachfolger der unausgebildete Zustand der Bühne, die Kindheit pgo_445.018
ihrer Formen! Seine Tragödieen waren mehr erhabene Wettgesänge, pgo_445.019
die dramatische Handlung brach nur halbentfaltet aus dem epischen pgo_445.020
Keime und der lyrischen Schale. Doch seine Phantasie war reich an pgo_445.021
bedeutsamen Anschauungen und großen Bildern, an kühnen Griffen. pgo_445.022
Sein "Prometheus" ist eine griechische Faustiade, seine "Perser" pgo_445.023
wiesen das griechische Drama auf die Bahn der politischen Volksdichtung, pgo_445.024
die es aber wieder verließ, um nur Stoffe mythischer Tradition zu behandeln. pgo_445.025
Seine großartige Trilogie: Agamemnon, die Choephoren, pgo_445.026
die Eumeniden,
welche die ganze Orestie enthält, ist uns vollständig pgo_445.027
erhalten. Die Kunst der dramatischen Anlage, welche dem Aeschylos pgo_445.028
fehlte, vereinigt mit einer ideal menschlichen Haltung der Charaktere, in pgo_445.029
welcher alles unklar Titanenhafte vermieden war, stellt den Sophokles**)

*) pgo_445.030
Von den zahlreichen Tragödieen des Aeschylos sind uns nur 7 erhalten: pgo_445.031
der gefesselte Prometheus, die Hiketiden, die Sieben gegen Theben, pgo_445.032
Agamemnon, die Coephoren, die Eumeniden, die Perser
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**) pgo_445.033
Von den 130 Tragödieen des überaus fruchtbaren Sophokles haben sich nur pgo_445.034
7 erhalten: der wüthende Ajax, Elektra, Antigone, Oedipus Tyrannus, pgo_445.035
Oedipus auf Kolonos, die Trachinerinnen
und Philoktetes.

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[445/0467] pgo_445.001 Entwicklung erscheint entweder als bekannt, wenn das Stück auf einem pgo_445.002 volksthümlichen Mythos beruht, oder sie wird von einer Göttin im Prolog, pgo_445.003 oder einer der handelnden Personen vorgetragen. Die entscheidenden pgo_445.004 Thaten selbst geschehn hinter der Scene und werden ebenfalls erzählt. pgo_445.005 Was große Genien in dieser Form geleistet, hat sich Unsterblichkeit errungen; pgo_445.006 aber vergeblich war stets das Bemühn, diese Form selbst nachzuahmen pgo_445.007 oder neu zu erwecken. pgo_445.008 Der Jnhalt der hellenischen Tragödie war vorzugsweise ein mythischer. pgo_445.009 Die Stoffe waren traditionell, gehörten besonders dem thebanischen pgo_445.010 und mykenischen Sagenkreise an, der mit dem trojanischen pgo_445.011 zusammenhing, und wurden von den verschiedensten Dichtern behandelt. pgo_445.012 Nur Aeschylos in den „Persern“ nahm den Anlauf zu einer historischen, pgo_445.013 Agathon in seinen nicht erhaltenen Stücken zu einer ganz pgo_445.014 fingirten Tragödie. Von den drei großen Tragikern der Griechen ist pgo_445.015 Aeschylos *) der gewaltigste, der größte dichterische Genius, eine pgo_445.016 Mischung von Pindar und Shakespeare, doch ihn hemmte noch mehr als pgo_445.017 seine Nachfolger der unausgebildete Zustand der Bühne, die Kindheit pgo_445.018 ihrer Formen! Seine Tragödieen waren mehr erhabene Wettgesänge, pgo_445.019 die dramatische Handlung brach nur halbentfaltet aus dem epischen pgo_445.020 Keime und der lyrischen Schale. Doch seine Phantasie war reich an pgo_445.021 bedeutsamen Anschauungen und großen Bildern, an kühnen Griffen. pgo_445.022 Sein „Prometheus“ ist eine griechische Faustiade, seine „Perser“ pgo_445.023 wiesen das griechische Drama auf die Bahn der politischen Volksdichtung, pgo_445.024 die es aber wieder verließ, um nur Stoffe mythischer Tradition zu behandeln. pgo_445.025 Seine großartige Trilogie: Agamemnon, die Choephoren, pgo_445.026 die Eumeniden, welche die ganze Orestie enthält, ist uns vollständig pgo_445.027 erhalten. Die Kunst der dramatischen Anlage, welche dem Aeschylos pgo_445.028 fehlte, vereinigt mit einer ideal menschlichen Haltung der Charaktere, in pgo_445.029 welcher alles unklar Titanenhafte vermieden war, stellt den Sophokles **) *) pgo_445.030 Von den zahlreichen Tragödieen des Aeschylos sind uns nur 7 erhalten: pgo_445.031 der gefesselte Prometheus, die Hiketiden, die Sieben gegen Theben, pgo_445.032 Agamemnon, die Coephoren, die Eumeniden, die Perser. **) pgo_445.033 Von den 130 Tragödieen des überaus fruchtbaren Sophokles haben sich nur pgo_445.034 7 erhalten: der wüthende Ajax, Elektra, Antigone, Oedipus Tyrannus, pgo_445.035 Oedipus auf Kolonos, die Trachinerinnen und Philoktetes.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/467>, abgerufen am 22.11.2024.