Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.pgo_446.001 *) pgo_446.034
Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes, pgo_446.035 Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe, pgo_446.001 *) pgo_446.034
Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes, pgo_446.035 Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0468" n="446"/><lb n="pgo_446.001"/> in die schöne Mitte der griechischen Tragödie. Eine sittliche Rührung, <lb n="pgo_446.002"/> eine milde Versöhnung durchweht seine Schöpfungen — wir erinnern nur <lb n="pgo_446.003"/> an jene dramatische Weihehymne, den „<hi rendition="#g">Oedipus auf Kolonos.</hi>“ <lb n="pgo_446.004"/> Selbst für die wildtobende Leidenschaft, wie im <hi rendition="#g">Ajas,</hi> findet seine maaßvolle <lb n="pgo_446.005"/> Phantasie eine harmonisch schöne Form. Meisterhaft durchgeführt <lb n="pgo_446.006"/> ist die tragische Kollision in der „<hi rendition="#g">Antigone,</hi>“ die Heldin selbst eine <lb n="pgo_446.007"/> Gestalt edelster Weiblichkeit. Dabei zeigt die dramatische Technik die <lb n="pgo_446.008"/> größten Fortschritte gegen Aeschylos — die Handlung entwickelt sich Scene <lb n="pgo_446.009"/> für Scene in nothwendigem und spannendem Fortgang weiter, der Chor <lb n="pgo_446.010"/> ist von ihrem Pathos lebendig durchdrungen und verliert sich nicht in <lb n="pgo_446.011"/> weitabführende Betrachtungen. Die Sprache ist rein, klar, von edelster <lb n="pgo_446.012"/> Haltung und harmonischer Rhythmik. Der dritte große Tragiker, <hi rendition="#g">Euripides,</hi> <lb n="pgo_446.013"/> verließ die harmonische Mitte des Menschlichen und Göttlichen, <lb n="pgo_446.014"/> die den Sophokles charakterisirt! Während bei <hi rendition="#g">Aeschylos</hi> der Schwerpunkt <lb n="pgo_446.015"/> der Handlung auf die Seite der <hi rendition="#g">göttlichen Mächte</hi> fällt: wird <lb n="pgo_446.016"/> bei Euripides das Göttliche bereits zur todten Maschinerie des Drama, <lb n="pgo_446.017"/> und die freie Jndividualität des Menschen entwickelt sich bis zur wildesten <lb n="pgo_446.018"/> Leidenschaft, welche den Boden der antiken Welt verläßt. Besonders <lb n="pgo_446.019"/> seine Heldinnen, seine „<hi rendition="#g">Medea,</hi>“ „<hi rendition="#g">Phädra</hi>“ u. s. w. entwickeln eine <lb n="pgo_446.020"/> dämonische Weiblichkeit, welche ganz in das Moderne hinüberspielt. <lb n="pgo_446.021"/> Kein größerer Gegensatz, als die „Medea“ des Euripides und die „Antigone“ <lb n="pgo_446.022"/> des Sophokles. Man sollte glauben, daß ein Weltalter zwischen <lb n="pgo_446.023"/> diesen weiblichen Gestalten liegt, von denen die letztere das rein sittliche <lb n="pgo_446.024"/> Jdeal eines für das heilige Gesetz der Familie, für die reinen Empfindungen <lb n="pgo_446.025"/> der Pietät sich opfernden Weibes repräsentirt, während die erstere, <lb n="pgo_446.026"/> auf's Schärfste bestimmt in ihrer charakteristischen Zeichnung als Kolcherin <lb n="pgo_446.027"/> und barbarische Zauberin, den glühendsten Rachedurst verlassener Liebe <lb n="pgo_446.028"/> in blutigen Thaten kühlt, bis sie auf ihrem Drachenwagen in die Luft <lb n="pgo_446.029"/> entschwindet. Die Sprache des <hi rendition="#g">Euripides</hi> vertauscht ebenfalls das <lb n="pgo_446.030"/> harmonische Maaß des Sophokles mit den wilden Ergüssen entfesselter <lb n="pgo_446.031"/> Leidenschaftlichkeit, deren dämonischer Taumel oft zur Unzeit von kalten <lb n="pgo_446.032"/> Sprüchen der Lebensweisheit unterbrochen wird, die mit dem Anspruche <lb n="pgo_446.033"/> selbstständiger Bedeutung auftreten <note xml:id="PGO_446_1a" n="*)" place="foot" next="#PGO_446_1b"><lb n="pgo_446.034"/> Von den 75 Stücken des <hi rendition="#g">Euripides</hi> sind uns 18 erhalten: <hi rendition="#g">Elektra, Orestes, <lb n="pgo_446.035"/> Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe,</hi></note>. An Euripides vorzugsweise </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [446/0468]
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in die schöne Mitte der griechischen Tragödie. Eine sittliche Rührung, pgo_446.002
eine milde Versöhnung durchweht seine Schöpfungen — wir erinnern nur pgo_446.003
an jene dramatische Weihehymne, den „Oedipus auf Kolonos.“ pgo_446.004
Selbst für die wildtobende Leidenschaft, wie im Ajas, findet seine maaßvolle pgo_446.005
Phantasie eine harmonisch schöne Form. Meisterhaft durchgeführt pgo_446.006
ist die tragische Kollision in der „Antigone,“ die Heldin selbst eine pgo_446.007
Gestalt edelster Weiblichkeit. Dabei zeigt die dramatische Technik die pgo_446.008
größten Fortschritte gegen Aeschylos — die Handlung entwickelt sich Scene pgo_446.009
für Scene in nothwendigem und spannendem Fortgang weiter, der Chor pgo_446.010
ist von ihrem Pathos lebendig durchdrungen und verliert sich nicht in pgo_446.011
weitabführende Betrachtungen. Die Sprache ist rein, klar, von edelster pgo_446.012
Haltung und harmonischer Rhythmik. Der dritte große Tragiker, Euripides, pgo_446.013
verließ die harmonische Mitte des Menschlichen und Göttlichen, pgo_446.014
die den Sophokles charakterisirt! Während bei Aeschylos der Schwerpunkt pgo_446.015
der Handlung auf die Seite der göttlichen Mächte fällt: wird pgo_446.016
bei Euripides das Göttliche bereits zur todten Maschinerie des Drama, pgo_446.017
und die freie Jndividualität des Menschen entwickelt sich bis zur wildesten pgo_446.018
Leidenschaft, welche den Boden der antiken Welt verläßt. Besonders pgo_446.019
seine Heldinnen, seine „Medea,“ „Phädra“ u. s. w. entwickeln eine pgo_446.020
dämonische Weiblichkeit, welche ganz in das Moderne hinüberspielt. pgo_446.021
Kein größerer Gegensatz, als die „Medea“ des Euripides und die „Antigone“ pgo_446.022
des Sophokles. Man sollte glauben, daß ein Weltalter zwischen pgo_446.023
diesen weiblichen Gestalten liegt, von denen die letztere das rein sittliche pgo_446.024
Jdeal eines für das heilige Gesetz der Familie, für die reinen Empfindungen pgo_446.025
der Pietät sich opfernden Weibes repräsentirt, während die erstere, pgo_446.026
auf's Schärfste bestimmt in ihrer charakteristischen Zeichnung als Kolcherin pgo_446.027
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in blutigen Thaten kühlt, bis sie auf ihrem Drachenwagen in die Luft pgo_446.029
entschwindet. Die Sprache des Euripides vertauscht ebenfalls das pgo_446.030
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Sprüchen der Lebensweisheit unterbrochen wird, die mit dem Anspruche pgo_446.033
selbstständiger Bedeutung auftreten *). An Euripides vorzugsweise
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Von den 75 Stücken des Euripides sind uns 18 erhalten: Elektra, Orestes, pgo_446.035
Jphigenia in Aulis, Jphigenia in Tauris, Alkestis, Helena, Hekabe,
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