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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das X. Capitel

Zuweilen zweifelt man zwar selber nicht, will aber durch
einen verstellten Zweifel die Zuhörer zum Nachsinnen be-
wegen. So zweifelt Günther in seiner Sterb-Ode, wem
er seine Leyer vermachen soll:

Sage, du begriffne Leyer!
Wem ich dich vermachen darf?
Viele wünschen dich ins Feuer;
Denn du rasselst gar zu scharf.
Soll ich dich nun lodern lassen?
Nein, dein niemahls fauler Klang
Ließ mich offt ein Hertze fassen,
Und verdienet bessern Danck.
Soll ich dich dem Phöbus schencken?
Nein du bist ein schlechter Schmuck,
Und an den Parnaß zu hencken,
Noch nicht ausgespielt genug.
Opitz würde dich beschämen,
Flemming möchte wiederstehn:
Mag dich doch die Wahrheit nehmen,
Und damit hausiren gehn.

Die III. kan der Wiederruf (Correctio oder Epanorthosis)
seyn, wenn Leute ihr Wort, so sie schon gesagt, wieder zu-
rücke nehmen, weil es ihnen zu schwach vorkommt, und
ein hefftigers heraus stossen wollen. Z. E. Opitz in einem
Hochzeit-Wunsche p. 77. der Poet. W. v. 133.

Der (GOtt) lasse mich erfahren,
Und hören offt und sehr,
Was hören? Sehn vielmehr,
Daß dich, von Jahr zu Jahren,
Was dir giebt dieser Tag,
Mit Frucht bereichern mag.

Zuweilen hat man auch wohl etwas zu frey heraus gesagt,
will also das ausgestossene Wort wieder zurücke nehmen,
und ein bessers an die Stelle setzen. So läßt z. E. Gün-
ther den Apollo in einer Cantata, wo er mit dem Mer-
cur um den Vorzug streitet, folgendergestalt reden:

So, hör ich, soll dein Judas-Spieß,
Dein Zepter, wollt ich sagen,
Mehr Frucht und Vortheil tragen,
Als meiner Künste Paradieß?

Die
Das X. Capitel

Zuweilen zweifelt man zwar ſelber nicht, will aber durch
einen verſtellten Zweifel die Zuhoͤrer zum Nachſinnen be-
wegen. So zweifelt Guͤnther in ſeiner Sterb-Ode, wem
er ſeine Leyer vermachen ſoll:

Sage, du begriffne Leyer!
Wem ich dich vermachen darf?
Viele wuͤnſchen dich ins Feuer;
Denn du raſſelſt gar zu ſcharf.
Soll ich dich nun lodern laſſen?
Nein, dein niemahls fauler Klang
Ließ mich offt ein Hertze faſſen,
Und verdienet beſſern Danck.
Soll ich dich dem Phoͤbus ſchencken?
Nein du biſt ein ſchlechter Schmuck,
Und an den Parnaß zu hencken,
Noch nicht ausgeſpielt genug.
Opitz wuͤrde dich beſchaͤmen,
Flemming moͤchte wiederſtehn:
Mag dich doch die Wahrheit nehmen,
Und damit hauſiren gehn.

Die III. kan der Wiederruf (Correctio oder Epanorthoſis)
ſeyn, wenn Leute ihr Wort, ſo ſie ſchon geſagt, wieder zu-
ruͤcke nehmen, weil es ihnen zu ſchwach vorkommt, und
ein hefftigers heraus ſtoſſen wollen. Z. E. Opitz in einem
Hochzeit-Wunſche p. 77. der Poet. W. v. 133.

Der (GOtt) laſſe mich erfahren,
Und hoͤren offt und ſehr,
Was hoͤren? Sehn vielmehr,
Daß dich, von Jahr zu Jahren,
Was dir giebt dieſer Tag,
Mit Frucht bereichern mag.

Zuweilen hat man auch wohl etwas zu frey heraus geſagt,
will alſo das ausgeſtoſſene Wort wieder zuruͤcke nehmen,
und ein beſſers an die Stelle ſetzen. So laͤßt z. E. Guͤn-
ther den Apollo in einer Cantata, wo er mit dem Mer-
cur um den Vorzug ſtreitet, folgendergeſtalt reden:

So, hoͤr ich, ſoll dein Judas-Spieß,
Dein Zepter, wollt ich ſagen,
Mehr Frucht und Vortheil tragen,
Als meiner Kuͤnſte Paradieß?

Die
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[262/0290] Das X. Capitel Zuweilen zweifelt man zwar ſelber nicht, will aber durch einen verſtellten Zweifel die Zuhoͤrer zum Nachſinnen be- wegen. So zweifelt Guͤnther in ſeiner Sterb-Ode, wem er ſeine Leyer vermachen ſoll: Sage, du begriffne Leyer! Wem ich dich vermachen darf? Viele wuͤnſchen dich ins Feuer; Denn du raſſelſt gar zu ſcharf. Soll ich dich nun lodern laſſen? Nein, dein niemahls fauler Klang Ließ mich offt ein Hertze faſſen, Und verdienet beſſern Danck. Soll ich dich dem Phoͤbus ſchencken? Nein du biſt ein ſchlechter Schmuck, Und an den Parnaß zu hencken, Noch nicht ausgeſpielt genug. Opitz wuͤrde dich beſchaͤmen, Flemming moͤchte wiederſtehn: Mag dich doch die Wahrheit nehmen, Und damit hauſiren gehn. Die III. kan der Wiederruf (Correctio oder Epanorthoſis) ſeyn, wenn Leute ihr Wort, ſo ſie ſchon geſagt, wieder zu- ruͤcke nehmen, weil es ihnen zu ſchwach vorkommt, und ein hefftigers heraus ſtoſſen wollen. Z. E. Opitz in einem Hochzeit-Wunſche p. 77. der Poet. W. v. 133. Der (GOtt) laſſe mich erfahren, Und hoͤren offt und ſehr, Was hoͤren? Sehn vielmehr, Daß dich, von Jahr zu Jahren, Was dir giebt dieſer Tag, Mit Frucht bereichern mag. Zuweilen hat man auch wohl etwas zu frey heraus geſagt, will alſo das ausgeſtoſſene Wort wieder zuruͤcke nehmen, und ein beſſers an die Stelle ſetzen. So laͤßt z. E. Guͤn- ther den Apollo in einer Cantata, wo er mit dem Mer- cur um den Vorzug ſtreitet, folgendergeſtalt reden: So, hoͤr ich, ſoll dein Judas-Spieß, Dein Zepter, wollt ich ſagen, Mehr Frucht und Vortheil tragen, Als meiner Kuͤnſte Paradieß? Die

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/290>, abgerufen am 25.11.2024.