unvergleichlich. Jn Canitzens geistlichen Gedichten sind auch einige treffliche Muster davon. Jn dem Liede: Herr ich denck an jene Zeit; hat Mylius ein Meisterstück einer sinnreichen Betrachtung der Sterblichkeit gewiesen, dergleichen auch Simon Dach sehr viele verfertiget hat.
Aus allen den angeführten Oden aber wird man wahr- nehmen, daß durchgehends eine grössere Lebhafftigkeit und Munterkeit als in andern Gedichten herrschet. Dieses unter- scheidet denn die Ode von der gemeinen Schreibart. Sie machet nicht viel Umschweife mit Verbindungs-Wörtern oder andern weitläuftigen Formeln. Sie fängt jede Strophe so zu reden mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Aus- drückungen und Redensarten; sie versetzt in ihrer Hitze zu- weilen die Ordnung der Wörter; Kurtz, alles schmeckt nach einer Begeisterung der Musen. Wer ausführlichere Regeln, und gute Exempel davon sehen will, darf nur die Oden der Deutschen Gesellschafft nachschlagen, wo er von allen Gat- tungen einige antreffen wird. Zum Beschlusse will ich noch des Boileau Regeln von der Ode hersetzen, und alsdann eini- ge von meinen neuesten Liedern zur Probe beyfügen.
L'Ode avec plus d'eclat, & non moins d'Energie, Elevant jusqu'aux cieux son vol ambitieux, Entretient dans ses vers un commerce avec les Dieux. Aux Athletes dans Pise elle ouvre la barriere, Chante un Vainqueur poudreux au bout de la carriere, Mene Achille sanglant aux bord de Simoeis, Ou fait flechir l'Escaut sous le joug de Louis. Tantot comme une Abeille, ardente a son ouvrage, Elle s'en va de fleurs depouiller le rivage; Elle peint les festins, les danses & les ris, Vante un baiser cueilli sur les levres d'Iris, Qui mollement resiste, & par un doux caprice, Quelque fois le refuse, a fin qu'on le ravisse. Son stile impetueux souvent marche au hazard, Chez elle un beau desordre est un effet de l'art. Loin ces Rimeurs craintifs, dont l'esprit phlegmatique, Garde dans ses fureurs un ordre didactique: Qui chantant d'un Heros les progres eclatants, Maigres Historiens, suivront l'ordre du tems. Ils n'osent un moment perdre un sujet de vue. &c. Apollon de fon feu leur faut toujours avare.
Auf
Von Oden, oder Liedern.
unvergleichlich. Jn Canitzens geiſtlichen Gedichten ſind auch einige treffliche Muſter davon. Jn dem Liede: Herr ich denck an jene Zeit; hat Mylius ein Meiſterſtuͤck einer ſinnreichen Betrachtung der Sterblichkeit gewieſen, dergleichen auch Simon Dach ſehr viele verfertiget hat.
Aus allen den angefuͤhrten Oden aber wird man wahr- nehmen, daß durchgehends eine groͤſſere Lebhafftigkeit und Munterkeit als in andern Gedichten herrſchet. Dieſes unter- ſcheidet denn die Ode von der gemeinen Schreibart. Sie machet nicht viel Umſchweife mit Verbindungs-Woͤrtern oder andern weitlaͤuftigen Formeln. Sie faͤngt jede Strophe ſo zu reden mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Aus- druͤckungen und Redensarten; ſie verſetzt in ihrer Hitze zu- weilen die Ordnung der Woͤrter; Kurtz, alles ſchmeckt nach einer Begeiſterung der Muſen. Wer ausfuͤhrlichere Regeln, und gute Exempel davon ſehen will, darf nur die Oden der Deutſchen Geſellſchafft nachſchlagen, wo er von allen Gat- tungen einige antreffen wird. Zum Beſchluſſe will ich noch des Boileau Regeln von der Ode herſetzen, und alsdann eini- ge von meinen neueſten Liedern zur Probe beyfuͤgen.
L’Ode avec plus d’eclat, & non moins d’Energie, Elevant jusqu’aux cieux ſon vol ambitieux, Entretient dans ſes vers un commerce avec les Dieux. Aux Athletes dans Piſe elle ouvre la barriere, Chante un Vainqueur poudreux au bout de la carriere, Mene Achille ſanglant aux bord de Simoîs, Ou fait flechir l’Eſcaut ſous le joug de Louis. Tantot comme une Abeille, ardente à ſon ouvrage, Elle s’en va de fleurs depouiller le rivage; Elle peint les feſtins, les danſes & les ris, Vante un baiſer cueilli ſur les levres d’Iris, Qui mollement reſiſte, & par un doux caprice, Quelque fois le refuſe, à fin qu’on le raviſſe. Son ſtile impetueux ſouvent marche au hazard, Chez elle un beau deſordre eſt un effet de l’art. Loin ces Rimeurs craintifs, dont l’eſprit phlegmatique, Garde dans ſes fureurs un ordre didactique: Qui chantant d’un Heros les progres éclatants, Maigres Hiſtoriens, ſuivront l’ordre du tems. Ils n’oſent un moment perdre un ſujet de vuë. &c. Apollon de fon feu leur fût toujours avare.
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Von Oden, oder Liedern.
unvergleichlich. Jn Canitzens geiſtlichen Gedichten ſind auch
einige treffliche Muſter davon. Jn dem Liede: Herr ich denck
an jene Zeit; hat Mylius ein Meiſterſtuͤck einer ſinnreichen
Betrachtung der Sterblichkeit gewieſen, dergleichen auch
Simon Dach ſehr viele verfertiget hat.
Aus allen den angefuͤhrten Oden aber wird man wahr-
nehmen, daß durchgehends eine groͤſſere Lebhafftigkeit und
Munterkeit als in andern Gedichten herrſchet. Dieſes unter-
ſcheidet denn die Ode von der gemeinen Schreibart. Sie
machet nicht viel Umſchweife mit Verbindungs-Woͤrtern
oder andern weitlaͤuftigen Formeln. Sie faͤngt jede Strophe
ſo zu reden mit einem Sprunge an. Sie wagt neue Aus-
druͤckungen und Redensarten; ſie verſetzt in ihrer Hitze zu-
weilen die Ordnung der Woͤrter; Kurtz, alles ſchmeckt nach
einer Begeiſterung der Muſen. Wer ausfuͤhrlichere Regeln,
und gute Exempel davon ſehen will, darf nur die Oden der
Deutſchen Geſellſchafft nachſchlagen, wo er von allen Gat-
tungen einige antreffen wird. Zum Beſchluſſe will ich noch
des Boileau Regeln von der Ode herſetzen, und alsdann eini-
ge von meinen neueſten Liedern zur Probe beyfuͤgen.
L’Ode avec plus d’eclat, & non moins d’Energie,
Elevant jusqu’aux cieux ſon vol ambitieux,
Entretient dans ſes vers un commerce avec les Dieux.
Aux Athletes dans Piſe elle ouvre la barriere,
Chante un Vainqueur poudreux au bout de la carriere,
Mene Achille ſanglant aux bord de Simoîs,
Ou fait flechir l’Eſcaut ſous le joug de Louis.
Tantot comme une Abeille, ardente à ſon ouvrage,
Elle s’en va de fleurs depouiller le rivage;
Elle peint les feſtins, les danſes & les ris,
Vante un baiſer cueilli ſur les levres d’Iris,
Qui mollement reſiſte, & par un doux caprice,
Quelque fois le refuſe, à fin qu’on le raviſſe.
Son ſtile impetueux ſouvent marche au hazard,
Chez elle un beau deſordre eſt un effet de l’art.
Loin ces Rimeurs craintifs, dont l’eſprit phlegmatique,
Garde dans ſes fureurs un ordre didactique:
Qui chantant d’un Heros les progres éclatants,
Maigres Hiſtoriens, ſuivront l’ordre du tems.
Ils n’oſent un moment perdre un ſujet de vuë. &c.
Apollon de fon feu leur fût toujours avare.
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/363>, abgerufen am 22.11.2024.
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