Geistern nicht frey stehen? Einmahl sind beyde Moralisten: beyde Liebhaber der Tugend, und Feinde der Bosheit: bey- de Vertheidiger der Gesetze, und redliche Bürger. Das Sylbenmaaß und die Reime können zum höchsten nichts bey der Sache ändern, als daß die Straf-Predigten der Poe- ten lieber gelesen und wohl gar auswendig gelernet werden: welches aber nur ihre Nutzbarkeit vergrössert, und ihnen einen desto grössern Vorzug vor allen andern Sittenschriff- ten einräumet.
Wie man leicht siehet, so setze ich hier zum voraus, daß ein Satirenschreiber ein Weltweiser sey, und die Lehre der Sitten gründlich eingesehen habe. Diese Eigenschafft desselben ist leicht zu erkennen, wenn man nur zehn oder zwanzig Zeilen einer solchen Satire lieset. Es gehört aber auch sonst ein reifes Urtheil und eine gute Einsicht in alles, was wohl oder übel steht, vor einen satirischen Dichter. Denn nicht nur das moralische Böse; sondern auch alle andre Ungereimtheiten in den Wissenschafften, freyen Kün- sten, Schrifften, Gewohnheiten und Verrichtungen der Menschen laufen in die Satire. Eine gesunde Vernunft und ein guter Geschmack ist also demjenigen unentbehrlich, der an- dre strafen will: damit sich nicht ein Blinder zum Führer des andern aufwerfe. Man sieht aber auch ohne mein Er- innern schon, daß unschuldige natürliche Fehler nicht unter die Satire fallen. Z. E. Ein Höckerichter, Lahmer, Ein- äugigter, u. d. g. müssen von keinem rechtschaffenen Poeten ihrer Gebrechen halber verspottet werden. Noch thörich- ter wäre es, jemanden seine lange oder kurtze Person vor- zurücken: gerade als ob es in eines Menschen Vermögen stünde, seiner Länge etwas zuzusetzen oder abzunehmen. Ja, wenn ein kleiner Kerl sich gar zu hohe Absätze machte, oder desto höhere Perrücken trüge, um grösser zu scheinen, als er ist: oder wenn ein langer Mensch krum und gebückt einher gienge, um kleiner auszusehen; So wäre beydes werth ausgelacht zu werden.
Es erhellet auch aus dem obigen, daß derjenige nicht den Nahmen eines satirischen Poeten verdiene; der bloß
aus
Des II Theils VI Capitel
Geiſtern nicht frey ſtehen? Einmahl ſind beyde Moraliſten: beyde Liebhaber der Tugend, und Feinde der Bosheit: bey- de Vertheidiger der Geſetze, und redliche Buͤrger. Das Sylbenmaaß und die Reime koͤnnen zum hoͤchſten nichts bey der Sache aͤndern, als daß die Straf-Predigten der Poe- ten lieber geleſen und wohl gar auswendig gelernet werden: welches aber nur ihre Nutzbarkeit vergroͤſſert, und ihnen einen deſto groͤſſern Vorzug vor allen andern Sittenſchriff- ten einraͤumet.
Wie man leicht ſiehet, ſo ſetze ich hier zum voraus, daß ein Satirenſchreiber ein Weltweiſer ſey, und die Lehre der Sitten gruͤndlich eingeſehen habe. Dieſe Eigenſchafft deſſelben iſt leicht zu erkennen, wenn man nur zehn oder zwanzig Zeilen einer ſolchen Satire lieſet. Es gehoͤrt aber auch ſonſt ein reifes Urtheil und eine gute Einſicht in alles, was wohl oder uͤbel ſteht, vor einen ſatiriſchen Dichter. Denn nicht nur das moraliſche Boͤſe; ſondern auch alle andre Ungereimtheiten in den Wiſſenſchafften, freyen Kuͤn- ſten, Schrifften, Gewohnheiten und Verrichtungen der Menſchen laufen in die Satire. Eine geſunde Vernunft und ein guter Geſchmack iſt alſo demjenigen unentbehrlich, der an- dre ſtrafen will: damit ſich nicht ein Blinder zum Fuͤhrer des andern aufwerfe. Man ſieht aber auch ohne mein Er- innern ſchon, daß unſchuldige natuͤrliche Fehler nicht unter die Satire fallen. Z. E. Ein Hoͤckerichter, Lahmer, Ein- aͤugigter, u. d. g. muͤſſen von keinem rechtſchaffenen Poeten ihrer Gebrechen halber verſpottet werden. Noch thoͤrich- ter waͤre es, jemanden ſeine lange oder kurtze Perſon vor- zuruͤcken: gerade als ob es in eines Menſchen Vermoͤgen ſtuͤnde, ſeiner Laͤnge etwas zuzuſetzen oder abzunehmen. Ja, wenn ein kleiner Kerl ſich gar zu hohe Abſaͤtze machte, oder deſto hoͤhere Perruͤcken truͤge, um groͤſſer zu ſcheinen, als er iſt: oder wenn ein langer Menſch krum und gebuͤckt einher gienge, um kleiner auszuſehen; So waͤre beydes werth ausgelacht zu werden.
Es erhellet auch aus dem obigen, daß derjenige nicht den Nahmen eines ſatiriſchen Poeten verdiene; der bloß
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Des II Theils VI Capitel
Geiſtern nicht frey ſtehen? Einmahl ſind beyde Moraliſten:
beyde Liebhaber der Tugend, und Feinde der Bosheit: bey-
de Vertheidiger der Geſetze, und redliche Buͤrger. Das
Sylbenmaaß und die Reime koͤnnen zum hoͤchſten nichts bey
der Sache aͤndern, als daß die Straf-Predigten der Poe-
ten lieber geleſen und wohl gar auswendig gelernet werden:
welches aber nur ihre Nutzbarkeit vergroͤſſert, und ihnen
einen deſto groͤſſern Vorzug vor allen andern Sittenſchriff-
ten einraͤumet.
Wie man leicht ſiehet, ſo ſetze ich hier zum voraus, daß
ein Satirenſchreiber ein Weltweiſer ſey, und die Lehre
der Sitten gruͤndlich eingeſehen habe. Dieſe Eigenſchafft
deſſelben iſt leicht zu erkennen, wenn man nur zehn oder
zwanzig Zeilen einer ſolchen Satire lieſet. Es gehoͤrt aber
auch ſonſt ein reifes Urtheil und eine gute Einſicht in alles,
was wohl oder uͤbel ſteht, vor einen ſatiriſchen Dichter.
Denn nicht nur das moraliſche Boͤſe; ſondern auch alle
andre Ungereimtheiten in den Wiſſenſchafften, freyen Kuͤn-
ſten, Schrifften, Gewohnheiten und Verrichtungen der
Menſchen laufen in die Satire. Eine geſunde Vernunft und
ein guter Geſchmack iſt alſo demjenigen unentbehrlich, der an-
dre ſtrafen will: damit ſich nicht ein Blinder zum Fuͤhrer
des andern aufwerfe. Man ſieht aber auch ohne mein Er-
innern ſchon, daß unſchuldige natuͤrliche Fehler nicht unter
die Satire fallen. Z. E. Ein Hoͤckerichter, Lahmer, Ein-
aͤugigter, u. d. g. muͤſſen von keinem rechtſchaffenen Poeten
ihrer Gebrechen halber verſpottet werden. Noch thoͤrich-
ter waͤre es, jemanden ſeine lange oder kurtze Perſon vor-
zuruͤcken: gerade als ob es in eines Menſchen Vermoͤgen
ſtuͤnde, ſeiner Laͤnge etwas zuzuſetzen oder abzunehmen.
Ja, wenn ein kleiner Kerl ſich gar zu hohe Abſaͤtze machte,
oder deſto hoͤhere Perruͤcken truͤge, um groͤſſer zu ſcheinen,
als er iſt: oder wenn ein langer Menſch krum und gebuͤckt
einher gienge, um kleiner auszuſehen; So waͤre beydes
werth ausgelacht zu werden.
Es erhellet auch aus dem obigen, daß derjenige nicht
den Nahmen eines ſatiriſchen Poeten verdiene; der bloß
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/490>, abgerufen am 22.11.2024.
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