Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.Von Satiren. aus Neid, Rachgier oder andern Gemüths-Bewegungenangetrieben, jemanden in Schrifften angreifet. Solche Niederträchtigkeit wiederspricht dem Begriffe, den wir von einem Weltweisen haben: Und wo dieser aufhört, da hört auch der Satiricus auf; oder da wird er vielmehr zum Lästerer. Es ist also eine thörichte Sache, wenn man fra- get: was doch dieser oder jener dem Poeten gethan haben müsse, dadurch er bewogen worden ihn abzuschildern? Die Antwort ist leicht. Je weniger er dem Poeten zuwieder gethan, desto mehr ist derselbe zu loben; weil er ihn ohne Rachgier und ohne Partheylichkeit, bloß seiner Laster hal- ber zum Abscheu und Gelächter gemacht. Die Satire würde ihren gantzen Werth verlieren, wenn sie nur eine Vergeltung der ihrem Verfasser wiederfahrnen Beleidi- gungen wäre. Und ich würde den gewiß vor einen Pas- qvillanten halten, der auf seinen Feind ein Spott-Gedichte schriebe; gesetzt, daß er das gröste Recht dazu hätte. Gün- ther scheint mir in diesem Stück tadelhafft zu seyn, weil er den Crispin so grausam gestriegelt, der ihm vorher so man- ches mochte in den Weg gelegt haben. Hingegen Clau- dians Ruffinus, den jener nachgeahmet hat, dünckt mir eine weit bessere Satire zu seyn: weil ich keine Spur dar- inn finde; daß der Verfasser sich an demselben habe rächen wollen. Noch eins wird man fragen, ob es nehmlich auch er- Ense velut stricto, quoties Lucilius ardens Zum
Von Satiren. aus Neid, Rachgier oder andern Gemuͤths-Bewegungenangetrieben, jemanden in Schrifften angreifet. Solche Niedertraͤchtigkeit wiederſpricht dem Begriffe, den wir von einem Weltweiſen haben: Und wo dieſer aufhoͤrt, da hoͤrt auch der Satiricus auf; oder da wird er vielmehr zum Laͤſterer. Es iſt alſo eine thoͤrichte Sache, wenn man fra- get: was doch dieſer oder jener dem Poeten gethan haben muͤſſe, dadurch er bewogen worden ihn abzuſchildern? Die Antwort iſt leicht. Je weniger er dem Poeten zuwieder gethan, deſto mehr iſt derſelbe zu loben; weil er ihn ohne Rachgier und ohne Partheylichkeit, bloß ſeiner Laſter hal- ber zum Abſcheu und Gelaͤchter gemacht. Die Satire wuͤrde ihren gantzen Werth verlieren, wenn ſie nur eine Vergeltung der ihrem Verfaſſer wiederfahrnen Beleidi- gungen waͤre. Und ich wuͤrde den gewiß vor einen Pas- qvillanten halten, der auf ſeinen Feind ein Spott-Gedichte ſchriebe; geſetzt, daß er das groͤſte Recht dazu haͤtte. Guͤn- ther ſcheint mir in dieſem Stuͤck tadelhafft zu ſeyn, weil er den Criſpin ſo grauſam geſtriegelt, der ihm vorher ſo man- ches mochte in den Weg gelegt haben. Hingegen Clau- dians Ruffinus, den jener nachgeahmet hat, duͤnckt mir eine weit beſſere Satire zu ſeyn: weil ich keine Spur dar- inn finde; daß der Verfaſſer ſich an demſelben habe raͤchen wollen. Noch eins wird man fragen, ob es nehmlich auch er- Enſe velut ſtricto, quoties Lucilius ardens Zum
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0491" n="463"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von Satiren.</hi></fw><lb/> aus Neid, Rachgier oder andern Gemuͤths-Bewegungen<lb/> angetrieben, jemanden in Schrifften angreifet. Solche<lb/> Niedertraͤchtigkeit wiederſpricht dem Begriffe, den wir von<lb/> einem Weltweiſen haben: Und wo dieſer aufhoͤrt, da hoͤrt<lb/> auch der Satiricus auf; oder da wird er vielmehr zum<lb/> Laͤſterer. Es iſt alſo eine thoͤrichte Sache, wenn man fra-<lb/> get: was doch dieſer oder jener dem Poeten gethan haben<lb/> muͤſſe, dadurch er bewogen worden ihn abzuſchildern? Die<lb/> Antwort iſt leicht. Je weniger er dem Poeten zuwieder<lb/> gethan, deſto mehr iſt derſelbe zu loben; weil er ihn ohne<lb/> Rachgier und ohne Partheylichkeit, bloß ſeiner Laſter hal-<lb/> ber zum Abſcheu und Gelaͤchter gemacht. Die Satire<lb/> wuͤrde ihren gantzen Werth verlieren, wenn ſie nur eine<lb/> Vergeltung der ihrem Verfaſſer wiederfahrnen Beleidi-<lb/> gungen waͤre. Und ich wuͤrde den gewiß vor einen Pas-<lb/> qvillanten halten, der auf ſeinen Feind ein Spott-Gedichte<lb/> ſchriebe; geſetzt, daß er das groͤſte Recht dazu haͤtte. Guͤn-<lb/> ther ſcheint mir in dieſem Stuͤck tadelhafft zu ſeyn, weil er<lb/> den Criſpin ſo grauſam geſtriegelt, der ihm vorher ſo man-<lb/> ches mochte in den Weg gelegt haben. Hingegen Clau-<lb/> dians Ruffinus, den jener nachgeahmet hat, duͤnckt mir<lb/> eine weit beſſere Satire zu ſeyn: weil ich keine Spur dar-<lb/> inn finde; daß der Verfaſſer ſich an demſelben habe raͤchen<lb/> wollen.</p><lb/> <p>Noch eins wird man fragen, ob es nehmlich auch er-<lb/> laubt ſey, die Perſonen mit Nahmen zu nennen? Jch ant-<lb/> worte, die Alten haben es ohne Scheu gethan, und Boi-<lb/> leau iſt ihnen darinn gefolget, hat ſich auch in ſeinem Diſcours<lb/> uͤber die Satiren deswegen verantwortet. Jn der That<lb/> zieht ſolches viel gutes, auch viel boͤſes nach ſich. 1.) Hin-<lb/> dert der Poet dadurch, daß man ſeine Verße nicht auf die<lb/> unrechten Perſonen deute: welches ſonſt gemeiniglich ge-<lb/> ſchieht. Zum 2.) fuͤrchten ſich die Laſterhafften deſtomehr:<lb/> denn</p><lb/> <cit> <quote> <hi rendition="#aq">Enſe velut ſtricto, quoties Lucilius ardens<lb/> Infremuit, rubet auditor, cui frigida mens eſt<lb/> Criminibus; tacita ſudant præcordia culpa.<lb/> Inde irae, & lacrimae.</hi> </quote> </cit><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Zum</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [463/0491]
Von Satiren.
aus Neid, Rachgier oder andern Gemuͤths-Bewegungen
angetrieben, jemanden in Schrifften angreifet. Solche
Niedertraͤchtigkeit wiederſpricht dem Begriffe, den wir von
einem Weltweiſen haben: Und wo dieſer aufhoͤrt, da hoͤrt
auch der Satiricus auf; oder da wird er vielmehr zum
Laͤſterer. Es iſt alſo eine thoͤrichte Sache, wenn man fra-
get: was doch dieſer oder jener dem Poeten gethan haben
muͤſſe, dadurch er bewogen worden ihn abzuſchildern? Die
Antwort iſt leicht. Je weniger er dem Poeten zuwieder
gethan, deſto mehr iſt derſelbe zu loben; weil er ihn ohne
Rachgier und ohne Partheylichkeit, bloß ſeiner Laſter hal-
ber zum Abſcheu und Gelaͤchter gemacht. Die Satire
wuͤrde ihren gantzen Werth verlieren, wenn ſie nur eine
Vergeltung der ihrem Verfaſſer wiederfahrnen Beleidi-
gungen waͤre. Und ich wuͤrde den gewiß vor einen Pas-
qvillanten halten, der auf ſeinen Feind ein Spott-Gedichte
ſchriebe; geſetzt, daß er das groͤſte Recht dazu haͤtte. Guͤn-
ther ſcheint mir in dieſem Stuͤck tadelhafft zu ſeyn, weil er
den Criſpin ſo grauſam geſtriegelt, der ihm vorher ſo man-
ches mochte in den Weg gelegt haben. Hingegen Clau-
dians Ruffinus, den jener nachgeahmet hat, duͤnckt mir
eine weit beſſere Satire zu ſeyn: weil ich keine Spur dar-
inn finde; daß der Verfaſſer ſich an demſelben habe raͤchen
wollen.
Noch eins wird man fragen, ob es nehmlich auch er-
laubt ſey, die Perſonen mit Nahmen zu nennen? Jch ant-
worte, die Alten haben es ohne Scheu gethan, und Boi-
leau iſt ihnen darinn gefolget, hat ſich auch in ſeinem Diſcours
uͤber die Satiren deswegen verantwortet. Jn der That
zieht ſolches viel gutes, auch viel boͤſes nach ſich. 1.) Hin-
dert der Poet dadurch, daß man ſeine Verße nicht auf die
unrechten Perſonen deute: welches ſonſt gemeiniglich ge-
ſchieht. Zum 2.) fuͤrchten ſich die Laſterhafften deſtomehr:
denn
Enſe velut ſtricto, quoties Lucilius ardens
Infremuit, rubet auditor, cui frigida mens eſt
Criminibus; tacita ſudant præcordia culpa.
Inde irae, & lacrimae.
Zum
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |