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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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werden durch Lectüre eines solchen Drama den vollen Genuß des Kunst¬
werks gewinnen können. . . . . . .

"Allein das materielle Alltagsleben läßt auf solchen geistigen Aufschwung
im Allgemeinen wenig rechnen. Es bedürfte also für den größten Theil
des Publikums der Darstellung solcher classischen Dramen, um den vollen
Eindruck zu empfangen, den das Kunstwerk seinein Zwecke nach beab¬
sichtigt. - - -

"Ohne in die Ursachen dieser Erscheinung tiefer eingehen zu wollen --
wozu hier der Raum fehlen würde -- darf doch nicht unbemerkt bleiben,
daß es namentlich bei den Schiller'schen Dramen der (!) Pathos und die
Lyrik ist, welche dieselben, nach der heutigen, mehr dem
Leben zugewendeten Geschmacksrichtung, von der Bühne
so gut als verbannen. (!!!)

"Also das steht fest: die Bühne trägt wenig bei, diese classischen Dra¬
men in das Volksleben so recht einzubürgern.-- -- --

"Die Lectüre leider auch nicht. *) Nicht blos aus den schon an¬
gegebenen Gründen, wonach sie dem Leser nur die halbe Illusion gewährt,
sondern auch -- offen gesagt -- durch die metrisch gebundene Rede, wo¬
rin die meisten solcher Dramen gedichtet sind.-- -- -- **)

"Der geschickteste Dichter wird, durch das Versmaß gebunden, nur
selten eine solche Wortstellung finden, die durch Conversationston dem Dia¬
loge Wahrheit und Leben giebt. Die Wortstellung des Verses bringt, wenn
auch nicht unnatürliche, doch ungewohnte Sprachwendungen zum Vorschein,
und mischt manches überflüssige, selbst bedeutungslose Wort ein. -- -- --

"Daher erklärt sich die wahrlich nicht seltene Erscheinung, daß übri¬
gens ganz gebildete Leute sagen: "Das sind Verse -- die lese ich
nicht!"-- -- --

"Ein dritter Grund, weshalb die Lectüre eines Drama im Allgemei¬
nen nicht den vollen Kunstgenuß gewährt, liegt in der dramatischen Form,
die den Dichter nöthigt, da zusammenzuziehen oder nur anzudeuten, wo der
Leser eine lebendige Schilderung erwartet, wie sie nur die epische Ausführ¬
lichkeit zu gewähren vermag.-- -- --

"Dagegen ist der Roman oder die Erzählung in Prosa die übliche
Form, die sich in den Zuständen des heutigen Volkslebens eingebürgert fin-



*) Hoho!
**) Ein Pereat dem Metrum! Fort mit Homer! mit Shakspear, mit Dante, mit
Camoens, mit den Psalmen, mit all dem metrischen Unsinn! fiat Belani.
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werden durch Lectüre eines solchen Drama den vollen Genuß des Kunst¬
werks gewinnen können. . . . . . .

„Allein das materielle Alltagsleben läßt auf solchen geistigen Aufschwung
im Allgemeinen wenig rechnen. Es bedürfte also für den größten Theil
des Publikums der Darstellung solcher classischen Dramen, um den vollen
Eindruck zu empfangen, den das Kunstwerk seinein Zwecke nach beab¬
sichtigt. - - -

„Ohne in die Ursachen dieser Erscheinung tiefer eingehen zu wollen —
wozu hier der Raum fehlen würde — darf doch nicht unbemerkt bleiben,
daß es namentlich bei den Schiller'schen Dramen der (!) Pathos und die
Lyrik ist, welche dieselben, nach der heutigen, mehr dem
Leben zugewendeten Geschmacksrichtung, von der Bühne
so gut als verbannen. (!!!)

„Also das steht fest: die Bühne trägt wenig bei, diese classischen Dra¬
men in das Volksleben so recht einzubürgern.— — —

„Die Lectüre leider auch nicht. *) Nicht blos aus den schon an¬
gegebenen Gründen, wonach sie dem Leser nur die halbe Illusion gewährt,
sondern auch — offen gesagt — durch die metrisch gebundene Rede, wo¬
rin die meisten solcher Dramen gedichtet sind.— — — **)

„Der geschickteste Dichter wird, durch das Versmaß gebunden, nur
selten eine solche Wortstellung finden, die durch Conversationston dem Dia¬
loge Wahrheit und Leben giebt. Die Wortstellung des Verses bringt, wenn
auch nicht unnatürliche, doch ungewohnte Sprachwendungen zum Vorschein,
und mischt manches überflüssige, selbst bedeutungslose Wort ein. — — —

„Daher erklärt sich die wahrlich nicht seltene Erscheinung, daß übri¬
gens ganz gebildete Leute sagen: „Das sind Verse — die lese ich
nicht!“— — —

„Ein dritter Grund, weshalb die Lectüre eines Drama im Allgemei¬
nen nicht den vollen Kunstgenuß gewährt, liegt in der dramatischen Form,
die den Dichter nöthigt, da zusammenzuziehen oder nur anzudeuten, wo der
Leser eine lebendige Schilderung erwartet, wie sie nur die epische Ausführ¬
lichkeit zu gewähren vermag.— — —

„Dagegen ist der Roman oder die Erzählung in Prosa die übliche
Form, die sich in den Zuständen des heutigen Volkslebens eingebürgert fin-



*) Hoho!
**) Ein Pereat dem Metrum! Fort mit Homer! mit Shakspear, mit Dante, mit
Camoens, mit den Psalmen, mit all dem metrischen Unsinn! fiat Belani.
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[283/0291] werden durch Lectüre eines solchen Drama den vollen Genuß des Kunst¬ werks gewinnen können. . . . . . . „Allein das materielle Alltagsleben läßt auf solchen geistigen Aufschwung im Allgemeinen wenig rechnen. Es bedürfte also für den größten Theil des Publikums der Darstellung solcher classischen Dramen, um den vollen Eindruck zu empfangen, den das Kunstwerk seinein Zwecke nach beab¬ sichtigt. - - - „Ohne in die Ursachen dieser Erscheinung tiefer eingehen zu wollen — wozu hier der Raum fehlen würde — darf doch nicht unbemerkt bleiben, daß es namentlich bei den Schiller'schen Dramen der (!) Pathos und die Lyrik ist, welche dieselben, nach der heutigen, mehr dem Leben zugewendeten Geschmacksrichtung, von der Bühne so gut als verbannen. (!!!) „Also das steht fest: die Bühne trägt wenig bei, diese classischen Dra¬ men in das Volksleben so recht einzubürgern.— — — „Die Lectüre leider auch nicht. *) Nicht blos aus den schon an¬ gegebenen Gründen, wonach sie dem Leser nur die halbe Illusion gewährt, sondern auch — offen gesagt — durch die metrisch gebundene Rede, wo¬ rin die meisten solcher Dramen gedichtet sind.— — — **) „Der geschickteste Dichter wird, durch das Versmaß gebunden, nur selten eine solche Wortstellung finden, die durch Conversationston dem Dia¬ loge Wahrheit und Leben giebt. Die Wortstellung des Verses bringt, wenn auch nicht unnatürliche, doch ungewohnte Sprachwendungen zum Vorschein, und mischt manches überflüssige, selbst bedeutungslose Wort ein. — — — „Daher erklärt sich die wahrlich nicht seltene Erscheinung, daß übri¬ gens ganz gebildete Leute sagen: „Das sind Verse — die lese ich nicht!“— — — „Ein dritter Grund, weshalb die Lectüre eines Drama im Allgemei¬ nen nicht den vollen Kunstgenuß gewährt, liegt in der dramatischen Form, die den Dichter nöthigt, da zusammenzuziehen oder nur anzudeuten, wo der Leser eine lebendige Schilderung erwartet, wie sie nur die epische Ausführ¬ lichkeit zu gewähren vermag.— — — „Dagegen ist der Roman oder die Erzählung in Prosa die übliche Form, die sich in den Zuständen des heutigen Volkslebens eingebürgert fin- *) Hoho! **) Ein Pereat dem Metrum! Fort mit Homer! mit Shakspear, mit Dante, mit Camoens, mit den Psalmen, mit all dem metrischen Unsinn! fiat Belani. 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/291>, abgerufen am 22.11.2024.