Grillparzer, Franz: Sappho. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Wien, 1819. Melitta. Wer wär' es denn in deiner Nähe nicht! Sappho. Was kann ich, Arme, denn dem Theuern biethen? In seiner Jugend Fülle steht er da, Geschmückt mit dieses Lebens schönsten Blüthen. Der erst erwachte Sinn, mit frohem Staunen. Die Zahl der eig'nen Kräfte überblickend, Spannt kühn die Flügel aus und nach dem Höch- sten Schießt gierig er den scharfen Adler-Blick. Was schön nur ist und groß und hoch und würdig, Sein ist's! Dem Kräftigen gehört die Welt! Und ich! -- O ihr des Himmels Götter alle! O gebt mir wieder die entschwund'ne Zeit! Löscht aus in dieser Brust vergang'ner Leiden, Vergang'ner Freuden tiefgetret'ne Spur; Was ich gefühlt, gesagt, gethan, gelitten, Es sey nicht, selbst in der Erinn'rung nicht! Laßt mich zurücke kehren in die Zeit, Da ich noch scheu mit runden Kinderwangen, Ein unbestimmt Gefühl im schweren Busen, Die neue Welt mit neuem Sinn betrat; Da Ahnung noch, kein quälendes Erkennen In meiner Leyer gold'nen Saiten spielte, Da noch ein Zauberland mir Liebe war, Ein unbekanntes, fremdes Zauberland! (sich an Melittens Busen lehnend.) Melitta. Wer wär' es denn in deiner Nähe nicht! Sappho. Was kann ich, Arme, denn dem Theuern biethen? In ſeiner Jugend Fülle ſteht er da, Geſchmückt mit dieſes Lebens ſchönſten Blüthen. Der erſt erwachte Sinn, mit frohem Staunen. Die Zahl der eig'nen Kräfte überblickend, Spannt kühn die Flügel aus und nach dem Höch- ſten Schießt gierig er den ſcharfen Adler-Blick. Was ſchön nur iſt und groß und hoch und würdig, Sein iſt's! Dem Kräftigen gehört die Welt! Und ich! — O ihr des Himmels Götter alle! O gebt mir wieder die entſchwund'ne Zeit! Löſcht aus in dieſer Bruſt vergang'ner Leiden, Vergang'ner Freuden tiefgetret'ne Spur; Was ich gefühlt, geſagt, gethan, gelitten, Es ſey nicht, ſelbſt in der Erinn'rung nicht! Laßt mich zurücke kehren in die Zeit, Da ich noch ſcheu mit runden Kinderwangen, Ein unbeſtimmt Gefühl im ſchweren Buſen, Die neue Welt mit neuem Sinn betrat; Da Ahnung noch, kein quälendes Erkennen In meiner Leyer gold'nen Saiten ſpielte, Da noch ein Zauberland mir Liebe war, Ein unbekanntes, fremdes Zauberland! (ſich an Melittens Buſen lehnend.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0032" n="22"/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melitta</hi>.</speaker><lb/> <p>Wer wär' es denn in deiner Nähe nicht!</p> </sp><lb/> <sp who="#SAP"> <speaker><hi rendition="#g">Sappho</hi>.</speaker><lb/> <p>Was kann ich, Arme, denn dem Theuern biethen?<lb/> In ſeiner Jugend Fülle ſteht er da,<lb/> Geſchmückt mit dieſes Lebens ſchönſten Blüthen.<lb/> Der erſt erwachte Sinn, mit frohem Staunen.<lb/> Die Zahl der eig'nen Kräfte überblickend,<lb/> Spannt kühn die Flügel aus und nach dem Höch-<lb/> ſten<lb/> Schießt gierig er den ſcharfen Adler-Blick.<lb/> Was ſchön nur iſt und groß und hoch und würdig,<lb/> Sein iſt's! Dem Kräftigen gehört die Welt!<lb/> Und ich! — O ihr des Himmels Götter alle!<lb/> O gebt mir wieder die entſchwund'ne Zeit!<lb/> Löſcht aus in dieſer Bruſt vergang'ner Leiden,<lb/> Vergang'ner Freuden tiefgetret'ne Spur;<lb/> Was ich gefühlt, geſagt, gethan, gelitten,<lb/> Es ſey nicht, ſelbſt in der Erinn'rung nicht!<lb/> Laßt mich zurücke kehren in die Zeit,<lb/> Da ich noch ſcheu mit runden Kinderwangen,<lb/> Ein unbeſtimmt Gefühl im ſchweren Buſen,<lb/> Die neue Welt mit neuem Sinn betrat;<lb/> Da Ahnung noch, kein quälendes Erkennen<lb/> In meiner Leyer gold'nen Saiten ſpielte,<lb/> Da noch ein Zauberland mir Liebe war,<lb/> Ein unbekanntes, fremdes Zauberland!</p><lb/> <stage>(ſich an <hi rendition="#g">Melittens</hi> Buſen lehnend.)</stage> </sp><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0032]
Melitta.
Wer wär' es denn in deiner Nähe nicht!
Sappho.
Was kann ich, Arme, denn dem Theuern biethen?
In ſeiner Jugend Fülle ſteht er da,
Geſchmückt mit dieſes Lebens ſchönſten Blüthen.
Der erſt erwachte Sinn, mit frohem Staunen.
Die Zahl der eig'nen Kräfte überblickend,
Spannt kühn die Flügel aus und nach dem Höch-
ſten
Schießt gierig er den ſcharfen Adler-Blick.
Was ſchön nur iſt und groß und hoch und würdig,
Sein iſt's! Dem Kräftigen gehört die Welt!
Und ich! — O ihr des Himmels Götter alle!
O gebt mir wieder die entſchwund'ne Zeit!
Löſcht aus in dieſer Bruſt vergang'ner Leiden,
Vergang'ner Freuden tiefgetret'ne Spur;
Was ich gefühlt, geſagt, gethan, gelitten,
Es ſey nicht, ſelbſt in der Erinn'rung nicht!
Laßt mich zurücke kehren in die Zeit,
Da ich noch ſcheu mit runden Kinderwangen,
Ein unbeſtimmt Gefühl im ſchweren Buſen,
Die neue Welt mit neuem Sinn betrat;
Da Ahnung noch, kein quälendes Erkennen
In meiner Leyer gold'nen Saiten ſpielte,
Da noch ein Zauberland mir Liebe war,
Ein unbekanntes, fremdes Zauberland!
(ſich an Melittens Buſen lehnend.)
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