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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. composition. schlußbemerkungen.
wirklichen imperativ zu grunde lege, so ist zu überlegen
a) die deutschen bildungen vergiß-meinnicht, schab-ab,
klaub-auf, französ. rendez-vous (auch aus einer andern
conjug.) porte-plain! (zuruf in der schiffahrt); zumahl
die nachsetzung des imp. in zeit-vertreib, fideln-stoß be-
rechtigen dazu. b) davon abgesehen, muß man in der-
gleichen wörtern eins von beiden annehmen entw. ei-
gentliche zusammensetzung oder uneigentliche. Eigent-
liche kann es nicht sein a) weil der organische bindungs-
vocal gebricht, wie ich erörtert habe; er kommt nur
ausnahmsweise in einigen griech. und slav. compolitis zum
vorschein, meiner ansicht nach fehlerhaft. Im romani-
schen, das seiner sonst unfähig ist, zeigt sich ein vocal
von sichtbar flexivischer, uncompositivischer beschaffen-
heit. b) weil dem wesen eigentlicher composition entge-
gen im begriff des ganzen das erste wort das stärkere und
regierende ist. c) weil keine eigentliche comp. dem er-
sten, seiner flexion beraubten und unselbständig gewor-
denen wort verstattet, auf das casusverhältnis des zweiten
einfluß auszuüben. Hier hängt aber der accus. des zwei-
ten vom ersten ab. g) ist es also nothwendig uneigent-
liche composition, so folgt, daß das erste wort nicht die
bloße wurzel, sondern eine leibliche flexion enthalte. We-
der ein deutsches spring-, hebe-, noch ein griech. age-,
phere-,
noch ein rom. guarda-, tira- kann aber etwas an-
deres als die II. sg. imp. sein, folglich verräth uns das
parallele agesi, pheresi eine außerhalb der zusammen-
setzung erloschne flexion. Da alle übrigen tempora voll-
ständig flectiert und besetzt sind und nur der imp. sut. 1.
mangelt, weist die lücke unmittelbar dahin. Es wäre un-
thunlich, in jenen formen z. b. die III. praes. ind. (springt,
hebt, agei, pherei, tira f. tirat, tire f. tiret) *) oder die I.
praes. ind. (springe, hebe, ago, phero, tiro, tire) zu su-
chen. d) allgemeine beziehung des ersten worts auf jed-
wede flexion wäre nur durch den compositionsvocal, der
hier fehlt, zu erreichen, wie bei unserm reib-eisen, nage-
thier (s. 683.) worin freilich reib, nage weder imp. noch
praes. ind. ist, noch eisen, thier ein acc. Uneigentliche

*) ich habe bedacht, daß agesi, pheresi die III. sg. praes. ind.
einer veralteten form auf -mi sein könne, nach analogie von phesi
(ait) deiknusi, wofür sich auch taug-nichts und neznaboh geltend
machen ließe; die übrigen wahrnehmungen zusammen weisen mehr
auf einen imp., auch componieren sich die wirklichen verba auf
-mi gerade nicht so.

III. compoſition. ſchlußbemerkungen.
wirklichen imperativ zu grunde lege, ſo iſt zu überlegen
α) die deutſchen bildungen vergiß-meinnicht, ſchab-ab,
klaub-auf, franzöſ. rendez-vous (auch aus einer andern
conjug.) porte-plain! (zuruf in der ſchiffahrt); zumahl
die nachſetzung des imp. in zeit-vertreib, fideln-ſtôƷ be-
rechtigen dazu. β) davon abgeſehen, muß man in der-
gleichen wörtern eins von beiden annehmen entw. ei-
gentliche zuſammenſetzung oder uneigentliche. Eigent-
liche kann es nicht ſein a) weil der organiſche bindungs-
vocal gebricht, wie ich erörtert habe; er kommt nur
ausnahmsweiſe in einigen griech. und ſlav. compolitis zum
vorſchein, meiner anſicht nach fehlerhaft. Im romani-
ſchen, das ſeiner ſonſt unfähig iſt, zeigt ſich ein vocal
von ſichtbar flexiviſcher, uncompoſitiviſcher beſchaffen-
heit. b) weil dem weſen eigentlicher compoſition entge-
gen im begriff des ganzen das erſte wort das ſtärkere und
regierende iſt. c) weil keine eigentliche comp. dem er-
ſten, ſeiner flexion beraubten und unſelbſtändig gewor-
denen wort verſtattet, auf das caſusverhältnis des zweiten
einfluß auszuüben. Hier hängt aber der accuſ. des zwei-
ten vom erſten ab. γ) iſt es alſo nothwendig uneigent-
liche compoſition, ſo folgt, daß das erſte wort nicht die
bloße wurzel, ſondern eine leibliche flexion enthalte. We-
der ein deutſches ſpring-, hebe-, noch ein griech. ἄγε-,
φέρε-,
noch ein rom. guarda-, tira- kann aber etwas an-
deres als die II. ſg. imp. ſein, folglich verräth uns das
parallele ἀγέσι, φερέσι eine außerhalb der zuſammen-
ſetzung erloſchne flexion. Da alle übrigen tempora voll-
ſtändig flectiert und beſetzt ſind und nur der imp. ſut. 1.
mangelt, weiſt die lücke unmittelbar dahin. Es wäre un-
thunlich, in jenen formen z. b. die III. praeſ. ind. (ſpringt,
hebt, ἄγει, φέρει, tira f. tirat, tire f. tiret) *) oder die I.
praeſ. ind. (ſpringe, hebe, ἄγω, φέρω, tiro, tire) zu ſu-
chen. δ) allgemeine beziehung des erſten worts auf jed-
wede flexion wäre nur durch den compoſitionsvocal, der
hier fehlt, zu erreichen, wie bei unſerm reib-eiſen, nage-
thier (ſ. 683.) worin freilich reib, nage weder imp. noch
praeſ. ind. iſt, noch eiſen, thier ein acc. Uneigentliche

*) ich habe bedacht, daß ἄγεσι, ϕέρεσι die III. ſg. praeſ. ind.
einer veralteten form auf -μι ſein könne, nach analogie von ϕησί
(ait) δείκνυσι, wofür ſich auch taug-nichts und neznaboh geltend
machen ließe; die übrigen wahrnehmungen zuſammen weiſen mehr
auf einen imp., auch componieren ſich die wirklichen verba auf
-μι gerade nicht ſo.
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[984/1002] III. compoſition. ſchlußbemerkungen. wirklichen imperativ zu grunde lege, ſo iſt zu überlegen α) die deutſchen bildungen vergiß-meinnicht, ſchab-ab, klaub-auf, franzöſ. rendez-vous (auch aus einer andern conjug.) porte-plain! (zuruf in der ſchiffahrt); zumahl die nachſetzung des imp. in zeit-vertreib, fideln-ſtôƷ be- rechtigen dazu. β) davon abgeſehen, muß man in der- gleichen wörtern eins von beiden annehmen entw. ei- gentliche zuſammenſetzung oder uneigentliche. Eigent- liche kann es nicht ſein a) weil der organiſche bindungs- vocal gebricht, wie ich erörtert habe; er kommt nur ausnahmsweiſe in einigen griech. und ſlav. compolitis zum vorſchein, meiner anſicht nach fehlerhaft. Im romani- ſchen, das ſeiner ſonſt unfähig iſt, zeigt ſich ein vocal von ſichtbar flexiviſcher, uncompoſitiviſcher beſchaffen- heit. b) weil dem weſen eigentlicher compoſition entge- gen im begriff des ganzen das erſte wort das ſtärkere und regierende iſt. c) weil keine eigentliche comp. dem er- ſten, ſeiner flexion beraubten und unſelbſtändig gewor- denen wort verſtattet, auf das caſusverhältnis des zweiten einfluß auszuüben. Hier hängt aber der accuſ. des zwei- ten vom erſten ab. γ) iſt es alſo nothwendig uneigent- liche compoſition, ſo folgt, daß das erſte wort nicht die bloße wurzel, ſondern eine leibliche flexion enthalte. We- der ein deutſches ſpring-, hebe-, noch ein griech. ἄγε-, φέρε-, noch ein rom. guarda-, tira- kann aber etwas an- deres als die II. ſg. imp. ſein, folglich verräth uns das parallele ἀγέσι, φερέσι eine außerhalb der zuſammen- ſetzung erloſchne flexion. Da alle übrigen tempora voll- ſtändig flectiert und beſetzt ſind und nur der imp. ſut. 1. mangelt, weiſt die lücke unmittelbar dahin. Es wäre un- thunlich, in jenen formen z. b. die III. praeſ. ind. (ſpringt, hebt, ἄγει, φέρει, tira f. tirat, tire f. tiret) *) oder die I. praeſ. ind. (ſpringe, hebe, ἄγω, φέρω, tiro, tire) zu ſu- chen. δ) allgemeine beziehung des erſten worts auf jed- wede flexion wäre nur durch den compoſitionsvocal, der hier fehlt, zu erreichen, wie bei unſerm reib-eiſen, nage- thier (ſ. 683.) worin freilich reib, nage weder imp. noch praeſ. ind. iſt, noch eiſen, thier ein acc. Uneigentliche *) ich habe bedacht, daß ἄγεσι, ϕέρεσι die III. ſg. praeſ. ind. einer veralteten form auf -μι ſein könne, nach analogie von ϕησί (ait) δείκνυσι, wofür ſich auch taug-nichts und neznaboh geltend machen ließe; die übrigen wahrnehmungen zuſammen weiſen mehr auf einen imp., auch componieren ſich die wirklichen verba auf -μι gerade nicht ſo.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 984. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/1002>, abgerufen am 21.11.2024.