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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. consonantische ableitungen. G.

b) die wichtigkeit der ableitungsvocale zeigt sich dies-
mahl einleuchtend bei den adj. auf -ag und -eig, es darf
weder für manags, gredags stehen maneigs, gredeigs,
noch für mahteigs, gabeigs stehen mahtags, gabags. Ja
zu denselben wurzeln fügen sich einigemahl beide ablei-
tungen mit verschiedner bedeutung, ahd. heißt einac uni-
cus, eineic aber aliquis und noch nhd. fühlen wir den
unterschied zwischen blutig und vollblütig, kaltblütig;
muthig, anmuthig und demüthig, langmüthig; lustig, ver-
lustig und wollüstig, weil ihn der umlaut in solchen fäl-
len sicherte. Es ist daher unrichtig, die ursache des um-
lauts oder nichtumlauts in nhd. adj. auf -ig von etwas
anderm abhängig zu machen, als eben von den alten -eig
und -ag; noch weniger läßt sich nach willkür beiderlei
form mit jeder umlautbaren wurzel verbinden. Wohin-
aus lauft aber nun der sinn jeder dieser ableitungen? Ich
bin früher versucht gewesen *), das -eig aus dem ano-
malen aigan, d. h. aus dem verlornen wahren praesens
goth. eigan, ahd. eikan, eigan zu deuten, doch befriedigt
der gedanke nicht recht, weil die allgemeinheit des be-
griffes -habend für viele adj. beider classen und dann wie-
der lange nicht für alle der eig-classe gerecht ist. Die
individuelle bedeutung der -ag und -eig muß sich nahe
berühren, weil einige mundarten den formellen unter-
schied, ohne empfindlichen verlust für den sinn der wör-
ter, fahren laßen. Warum also maneigs und mahtags
unstatthaft sind, scheint unsern blicken nicht viel durch-
dringlicher, als der grund, welcher fugls und mikils ge-
bietet, fugils, mikls verbietet. Zwar ließe sich sagen,
daß die adj. auf -ag eine fülle bedeuteten: bluotac, muot-
ac, scamac, notac, hungarac, vrostac, lustac, grasac gleich-
sam voll von blut, muth, scham etc. wogegen die auf
-eig einfach die gerade eigenschaft ausdrückten: mahteic,
suhteic, vluhteic, waram-bluoteic (nach dem nhd.) der mit
macht versehen, mit der sucht behaftet ist, warmes blut
hat, die flucht ergreift, welches jener erklärung des -eic
aus eigan zuspräche. Allein manac ist nicht: voll von
menschen, sondern ganz das abstracte multus, einac aus
dem hohen grad der einsamkeit zu deuten scheint ge-
zwungen. Auch wäre dann ein verstärkendes mahtac,
suhtac etc., überhaupt öftere anwendung des worts in bei-
derlei gestalt zuzugeben. Ganz den sinn bei seite gesetzt

*) erste ausg. der grammatik p. 560.
III. conſonantiſche ableitungen. G.

b) die wichtigkeit der ableitungsvocale zeigt ſich dies-
mahl einleuchtend bei den adj. auf -ag und -eig, es darf
weder für manags, grêdags ſtehen maneigs, grêdeigs,
noch für mahteigs, gabeigs ſtehen mahtags, gabags. Ja
zu denſelben wurzeln fügen ſich einigemahl beide ablei-
tungen mit verſchiedner bedeutung, ahd. heißt einac uni-
cus, einîc aber aliquis und noch nhd. fühlen wir den
unterſchied zwiſchen blutig und vollblütig, kaltblütig;
muthig, anmuthig und demüthig, langmüthig; luſtig, ver-
luſtig und wollüſtig, weil ihn der umlaut in ſolchen fäl-
len ſicherte. Es iſt daher unrichtig, die urſache des um-
lauts oder nichtumlauts in nhd. adj. auf -ig von etwas
anderm abhängig zu machen, als eben von den alten -eig
und -ag; noch weniger läßt ſich nach willkür beiderlei
form mit jeder umlautbaren wurzel verbinden. Wohin-
aus lauft aber nun der ſinn jeder dieſer ableitungen? Ich
bin früher verſucht geweſen *), das -eig aus dem ano-
malen áigan, d. h. aus dem verlornen wahren praeſens
goth. eigan, ahd. îkan, îgan zu deuten, doch befriedigt
der gedanke nicht recht, weil die allgemeinheit des be-
griffes -habend für viele adj. beider claſſen und dann wie-
der lange nicht für alle der eig-claſſe gerecht iſt. Die
individuelle bedeutung der -ag und -eig muß ſich nahe
berühren, weil einige mundarten den formellen unter-
ſchied, ohne empfindlichen verluſt für den ſinn der wör-
ter, fahren laßen. Warum alſo maneigs und mahtags
unſtatthaft ſind, ſcheint unſern blicken nicht viel durch-
dringlicher, als der grund, welcher fugls und mikils ge-
bietet, fugils, mikls verbietet. Zwar ließe ſich ſagen,
daß die adj. auf -ag eine fülle bedeuteten: bluotac, muot-
ac, ſcamac, nôtac, hungarac, vroſtac, luſtac, graſac gleich-
ſam voll von blut, muth, ſcham etc. wogegen die auf
-îg einfach die gerade eigenſchaft ausdrückten: mahtîc,
ſuhtîc, vluhtîc, waram-bluotîc (nach dem nhd.) der mit
macht verſehen, mit der ſucht behaftet iſt, warmes blut
hat, die flucht ergreift, welches jener erklärung des -îc
aus eigan zuſpräche. Allein manac iſt nicht: voll von
menſchen, ſondern ganz das abſtracte multus, einac aus
dem hohen grad der einſamkeit zu deuten ſcheint ge-
zwungen. Auch wäre dann ein verſtärkendes mahtac,
ſuhtac etc., überhaupt öftere anwendung des worts in bei-
derlei geſtalt zuzugeben. Ganz den ſinn bei ſeite geſetzt

*) erſte ausg. der grammatik p. 560.
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[308/0326] III. conſonantiſche ableitungen. G. b) die wichtigkeit der ableitungsvocale zeigt ſich dies- mahl einleuchtend bei den adj. auf -ag und -eig, es darf weder für manags, grêdags ſtehen maneigs, grêdeigs, noch für mahteigs, gabeigs ſtehen mahtags, gabags. Ja zu denſelben wurzeln fügen ſich einigemahl beide ablei- tungen mit verſchiedner bedeutung, ahd. heißt einac uni- cus, einîc aber aliquis und noch nhd. fühlen wir den unterſchied zwiſchen blutig und vollblütig, kaltblütig; muthig, anmuthig und demüthig, langmüthig; luſtig, ver- luſtig und wollüſtig, weil ihn der umlaut in ſolchen fäl- len ſicherte. Es iſt daher unrichtig, die urſache des um- lauts oder nichtumlauts in nhd. adj. auf -ig von etwas anderm abhängig zu machen, als eben von den alten -eig und -ag; noch weniger läßt ſich nach willkür beiderlei form mit jeder umlautbaren wurzel verbinden. Wohin- aus lauft aber nun der ſinn jeder dieſer ableitungen? Ich bin früher verſucht geweſen *), das -eig aus dem ano- malen áigan, d. h. aus dem verlornen wahren praeſens goth. eigan, ahd. îkan, îgan zu deuten, doch befriedigt der gedanke nicht recht, weil die allgemeinheit des be- griffes -habend für viele adj. beider claſſen und dann wie- der lange nicht für alle der eig-claſſe gerecht iſt. Die individuelle bedeutung der -ag und -eig muß ſich nahe berühren, weil einige mundarten den formellen unter- ſchied, ohne empfindlichen verluſt für den ſinn der wör- ter, fahren laßen. Warum alſo maneigs und mahtags unſtatthaft ſind, ſcheint unſern blicken nicht viel durch- dringlicher, als der grund, welcher fugls und mikils ge- bietet, fugils, mikls verbietet. Zwar ließe ſich ſagen, daß die adj. auf -ag eine fülle bedeuteten: bluotac, muot- ac, ſcamac, nôtac, hungarac, vroſtac, luſtac, graſac gleich- ſam voll von blut, muth, ſcham etc. wogegen die auf -îg einfach die gerade eigenſchaft ausdrückten: mahtîc, ſuhtîc, vluhtîc, waram-bluotîc (nach dem nhd.) der mit macht verſehen, mit der ſucht behaftet iſt, warmes blut hat, die flucht ergreift, welches jener erklärung des -îc aus eigan zuſpräche. Allein manac iſt nicht: voll von menſchen, ſondern ganz das abſtracte multus, einac aus dem hohen grad der einſamkeit zu deuten ſcheint ge- zwungen. Auch wäre dann ein verſtärkendes mahtac, ſuhtac etc., überhaupt öftere anwendung des worts in bei- derlei geſtalt zuzugeben. Ganz den ſinn bei ſeite geſetzt *) erſte ausg. der grammatik p. 560.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/326>, abgerufen am 22.11.2024.