Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. decomposita.
blitz-ab-leiter, dienst-ent-laßung, haupt-an-siedelung, feind-
aus-treiber u. a. m.

b) die partikel vorn, und zwar wiederum entw. sim-
plex und compositum (d. h. so, daß die partikel zu einem
bereits vorhandnen eigentlichen comp. tritt): hierher ge-
hört vorzüglich die zusammensetzung mit dem privativen
un-, schon in der ältesten sprache, z. b. goth. un-handu-
vaurhts (non manu factus); ahd. un-dot-heit (immortali-
tas) N. 37, 5. un-lida-weih (inexplicabilis) hrab. 967b un-sca-
ma-haft ker. 172. un-mana-lomi, un-mana-heiteic (immanis)
ker. 158; mhd. un-ende-haft, un-wandel-baere; nhd. un-räth-
lich, un-sterb-lich, un-glaub-haft, un-wandel-bar etc.;
schwerlich steht eine andere partikel auf diese weise,
außer im nhd. vor zusammengesetzten verbis und deren
ableitungen, z. b. be-rath-schlagen, be-rath-schlagung,
ver-hand-reichen, ver-hand-reichung. Oder compositum
und simplex, d. h. ein mit der partikel bereits verbund-
nes nomen bindet sich aufs neue und eigentlich mit ei-
nem andern, z. b. ahd. ca-noß-scaf ker. 9. widar-meß-
geba (repensatio) hrab. 964a ca-zelt-stecho (paxillus) hrab.
971b un-nuzi-trago (nugigerulus) hrab. 965a be-neim-scrift
(testamentum) N. 49, 5; mhd. ur-sprunc-brunne Barl.
ge-fuoc-heit, ge-selle-schaft; nhd. ge-winn-sucht, ge-walt-
haber, be-reit-schaft, ver-satz-brief, em-pfang-schein,
ver-wandt-schaft, ver-nunft-schluß, unter-schied-lich,
un-wahr-heit und viele ähnliche. Das zweite wort wird
im letzten fall wieder schwächer accentuiert, als im er-
sten, vgl. z. b. un-wahr-heit mit un-glaub-haft.

3) decomposita beidemahl uneigentlich,

a) nomina miteinander: nhd. bundes-tags-sitzung,
reichs-fahnen-träger, reichs-tags-schluß, manns-hemds-
ermel und dergleichen, die man wohl bilden kann, die
aber nicht sehr gebräuchlich sind. In der frühern sprache
ist an keine solche zusammensetzung zu denken, die ge-
nitive stehen sich ungebunden zur seite z. b. mhd. weibes
ougen sueße, weibes herzen suht Parc. 2a erden wunsches
solt Parc. 76b (vgl. erden wunsches überwal 56c) frou-
wen lones laß Parc. 80c der minnen geltes lon Parc. 6a
der gotes gnaden tou Barl. 350, 40. gotes muomen barn
mus. 2, 43. daß Etzeln veiende wueten kl. 3087. oder ahd.
thaß gotes hauses lachan O. IV. 33, 66. wintes brautei le-
wes O. V. 19, 54. höchstens dürfte in einigen dieser bei-
spiele zwischen den beiden vordern genitiven ein nähe-
res band angenommen werden (gotes-muomen barn,
wintes-brautei le). Auffallend ist das nhd. mutter-gottes-

III. decompoſita.
blitz-ab-leiter, dienſt-ent-laßung, haupt-an-ſiedelung, feind-
aus-treiber u. a. m.

β) die partikel vorn, und zwar wiederum entw. ſim-
plex und compoſitum (d. h. ſo, daß die partikel zu einem
bereits vorhandnen eigentlichen comp. tritt): hierher ge-
hört vorzüglich die zuſammenſetzung mit dem privativen
un-, ſchon in der älteſten ſprache, z. b. goth. un-handu-
vaúrhts (non manu factus); ahd. un-dôt-heit (immortali-
tas) N. 37, 5. un-lida-weih (inexplicabilis) hrab. 967b un-ſca-
ma-haft ker. 172. un-mana-lômi, un-mana-heitîc (immanis)
ker. 158; mhd. un-ende-haft, un-wandel-bære; nhd. un-räth-
lich, un-ſterb-lich, un-glaub-haft, un-wandel-bar etc.;
ſchwerlich ſteht eine andere partikel auf dieſe weiſe,
außer im nhd. vor zuſammengeſetzten verbis und deren
ableitungen, z. b. be-rath-ſchlagen, be-rath-ſchlagung,
ver-hand-reichen, ver-hand-reichung. Oder compoſitum
und ſimplex, d. h. ein mit der partikel bereits verbund-
nes nomen bindet ſich aufs neue und eigentlich mit ei-
nem andern, z. b. ahd. ca-nôƷ-ſcaf ker. 9. widar-mëƷ-
gëba (repenſatio) hrab. 964a ca-zëlt-ſtëcho (paxillus) hrab.
971b un-nuzi-trago (nugigerulus) hrab. 965a be-neim-ſcrift
(teſtamentum) N. 49, 5; mhd. ur-ſprunc-brunne Barl.
ge-fuoc-heit, ge-ſelle-ſchaft; nhd. ge-winn-ſucht, ge-walt-
haber, be-reit-ſchaft, ver-ſatz-brief, em-pfang-ſchein,
ver-wandt-ſchaft, ver-nunft-ſchluß, unter-ſchied-lich,
un-wahr-heit und viele ähnliche. Das zweite wort wird
im letzten fall wieder ſchwächer accentuiert, als im er-
ſten, vgl. z. b. un-wahr-heit mit un-glaub-haft.

3) decompoſita beidemahl uneigentlich,

a) nomina miteinander: nhd. bundes-tags-ſitzung,
reichs-fahnen-träger, reichs-tags-ſchluß, manns-hemds-
ermel und dergleichen, die man wohl bilden kann, die
aber nicht ſehr gebräuchlich ſind. In der frühern ſprache
iſt an keine ſolche zuſammenſetzung zu denken, die ge-
nitive ſtehen ſich ungebunden zur ſeite z. b. mhd. wîbes
ougen ſueƷe, wîbes hërzen ſuht Parc. 2a ërden wunſches
ſolt Parc. 76b (vgl. ërden wunſches überwal 56c) frou-
wen lônes laƷ Parc. 80c der minnen gëltes lôn Parc. 6a
der gotes gnâden tou Barl. 350, 40. gotes muomen barn
muſ. 2, 43. daƷ Etzeln vîende wueten kl. 3087. oder ahd.
thaƷ gotes hûſes lachan O. IV. 33, 66. wintes brûtî lê-
wes O. V. 19, 54. höchſtens dürfte in einigen dieſer bei-
ſpiele zwiſchen den beiden vordern genitiven ein nähe-
res band angenommen werden (gotes-muomen barn,
wintes-brûtî lê). Auffallend iſt das nhd. mutter-gottes-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0945" n="927"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">decompo&#x017F;ita.</hi></hi></fw><lb/>
blitz-ab-leiter, dien&#x017F;t-ent-laßung, haupt-an-&#x017F;iedelung, feind-<lb/>
aus-treiber u. a. m.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#i">&#x03B2;</hi>) die partikel vorn, und zwar wiederum entw. &#x017F;im-<lb/>
plex und compo&#x017F;itum (d. h. &#x017F;o, daß die partikel zu einem<lb/>
bereits vorhandnen eigentlichen comp. tritt): hierher ge-<lb/>
hört vorzüglich die zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung mit dem privativen<lb/><hi rendition="#i">un-</hi>, &#x017F;chon in der älte&#x017F;ten &#x017F;prache, z. b. goth. un-handu-<lb/>
vaúrhts (non manu factus); ahd. un-dôt-heit (immortali-<lb/>
tas) N. 37, 5. un-lida-weih (inexplicabilis) hrab. 967<hi rendition="#sup">b</hi> un-&#x017F;ca-<lb/>
ma-haft ker. 172. un-mana-lômi, un-mana-heitîc (immanis)<lb/>
ker. 158; mhd. un-ende-haft, un-wandel-bære; nhd. un-räth-<lb/>
lich, un-&#x017F;terb-lich, un-glaub-haft, un-wandel-bar etc.;<lb/>
&#x017F;chwerlich &#x017F;teht eine andere partikel auf die&#x017F;e wei&#x017F;e,<lb/>
außer im nhd. vor zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten verbis und deren<lb/>
ableitungen, z. b. be-rath-&#x017F;chlagen, be-rath-&#x017F;chlagung,<lb/>
ver-hand-reichen, ver-hand-reichung. Oder compo&#x017F;itum<lb/>
und &#x017F;implex, d. h. ein mit der partikel bereits verbund-<lb/>
nes nomen bindet &#x017F;ich aufs neue und eigentlich mit ei-<lb/>
nem andern, z. b. ahd. ca-nô&#x01B7;-&#x017F;caf ker. 9. widar-më&#x01B7;-<lb/>
gëba (repen&#x017F;atio) hrab. 964<hi rendition="#sup">a</hi> ca-zëlt-&#x017F;tëcho (paxillus) hrab.<lb/>
971<hi rendition="#sup">b</hi> un-nuzi-trago (nugigerulus) hrab. 965<hi rendition="#sup">a</hi> be-neim-&#x017F;crift<lb/>
(te&#x017F;tamentum) N. 49, 5; mhd. ur-&#x017F;prunc-brunne Barl.<lb/>
ge-fuoc-heit, ge-&#x017F;elle-&#x017F;chaft; nhd. ge-winn-&#x017F;ucht, ge-walt-<lb/>
haber, be-reit-&#x017F;chaft, ver-&#x017F;atz-brief, em-pfang-&#x017F;chein,<lb/>
ver-wandt-&#x017F;chaft, ver-nunft-&#x017F;chluß, unter-&#x017F;chied-lich,<lb/>
un-wahr-heit und viele ähnliche. Das zweite wort wird<lb/>
im letzten fall wieder &#x017F;chwächer accentuiert, als im er-<lb/>
&#x017F;ten, vgl. z. b. un-wahr-heit mit un-glaub-haft.</p><lb/>
            <p>3) <hi rendition="#i">decompo&#x017F;ita beidemahl uneigentlich,</hi></p><lb/>
            <p>a) nomina miteinander: nhd. bundes-tags-&#x017F;itzung,<lb/>
reichs-fahnen-träger, reichs-tags-&#x017F;chluß, manns-hemds-<lb/>
ermel und dergleichen, die man wohl bilden kann, die<lb/>
aber nicht &#x017F;ehr gebräuchlich &#x017F;ind. In der frühern &#x017F;prache<lb/>
i&#x017F;t an keine &#x017F;olche zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung zu denken, die ge-<lb/>
nitive &#x017F;tehen &#x017F;ich ungebunden zur &#x017F;eite z. b. mhd. wîbes<lb/>
ougen &#x017F;ue&#x01B7;e, wîbes hërzen &#x017F;uht Parc. 2<hi rendition="#sup">a</hi> ërden wun&#x017F;ches<lb/>
&#x017F;olt Parc. 76<hi rendition="#sup">b</hi> (vgl. ërden wun&#x017F;ches überwal 56<hi rendition="#sup">c</hi>) frou-<lb/>
wen lônes la&#x01B7; Parc. 80<hi rendition="#sup">c</hi> der minnen gëltes lôn Parc. 6<hi rendition="#sup">a</hi><lb/>
der gotes gnâden tou Barl. 350, 40. gotes muomen barn<lb/>
mu&#x017F;. 2, 43. da&#x01B7; Etzeln vîende wueten kl. 3087. oder ahd.<lb/>
tha&#x01B7; gotes hû&#x017F;es lachan O. IV. 33, 66. wintes brûtî lê-<lb/>
wes O. V. 19, 54. höch&#x017F;tens dürfte in einigen die&#x017F;er bei-<lb/>
&#x017F;piele zwi&#x017F;chen den beiden vordern genitiven ein nähe-<lb/>
res band angenommen werden (gotes-muomen barn,<lb/>
wintes-brûtî lê). Auffallend i&#x017F;t das nhd. mutter-gottes-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[927/0945] III. decompoſita. blitz-ab-leiter, dienſt-ent-laßung, haupt-an-ſiedelung, feind- aus-treiber u. a. m. β) die partikel vorn, und zwar wiederum entw. ſim- plex und compoſitum (d. h. ſo, daß die partikel zu einem bereits vorhandnen eigentlichen comp. tritt): hierher ge- hört vorzüglich die zuſammenſetzung mit dem privativen un-, ſchon in der älteſten ſprache, z. b. goth. un-handu- vaúrhts (non manu factus); ahd. un-dôt-heit (immortali- tas) N. 37, 5. un-lida-weih (inexplicabilis) hrab. 967b un-ſca- ma-haft ker. 172. un-mana-lômi, un-mana-heitîc (immanis) ker. 158; mhd. un-ende-haft, un-wandel-bære; nhd. un-räth- lich, un-ſterb-lich, un-glaub-haft, un-wandel-bar etc.; ſchwerlich ſteht eine andere partikel auf dieſe weiſe, außer im nhd. vor zuſammengeſetzten verbis und deren ableitungen, z. b. be-rath-ſchlagen, be-rath-ſchlagung, ver-hand-reichen, ver-hand-reichung. Oder compoſitum und ſimplex, d. h. ein mit der partikel bereits verbund- nes nomen bindet ſich aufs neue und eigentlich mit ei- nem andern, z. b. ahd. ca-nôƷ-ſcaf ker. 9. widar-mëƷ- gëba (repenſatio) hrab. 964a ca-zëlt-ſtëcho (paxillus) hrab. 971b un-nuzi-trago (nugigerulus) hrab. 965a be-neim-ſcrift (teſtamentum) N. 49, 5; mhd. ur-ſprunc-brunne Barl. ge-fuoc-heit, ge-ſelle-ſchaft; nhd. ge-winn-ſucht, ge-walt- haber, be-reit-ſchaft, ver-ſatz-brief, em-pfang-ſchein, ver-wandt-ſchaft, ver-nunft-ſchluß, unter-ſchied-lich, un-wahr-heit und viele ähnliche. Das zweite wort wird im letzten fall wieder ſchwächer accentuiert, als im er- ſten, vgl. z. b. un-wahr-heit mit un-glaub-haft. 3) decompoſita beidemahl uneigentlich, a) nomina miteinander: nhd. bundes-tags-ſitzung, reichs-fahnen-träger, reichs-tags-ſchluß, manns-hemds- ermel und dergleichen, die man wohl bilden kann, die aber nicht ſehr gebräuchlich ſind. In der frühern ſprache iſt an keine ſolche zuſammenſetzung zu denken, die ge- nitive ſtehen ſich ungebunden zur ſeite z. b. mhd. wîbes ougen ſueƷe, wîbes hërzen ſuht Parc. 2a ërden wunſches ſolt Parc. 76b (vgl. ërden wunſches überwal 56c) frou- wen lônes laƷ Parc. 80c der minnen gëltes lôn Parc. 6a der gotes gnâden tou Barl. 350, 40. gotes muomen barn muſ. 2, 43. daƷ Etzeln vîende wueten kl. 3087. oder ahd. thaƷ gotes hûſes lachan O. IV. 33, 66. wintes brûtî lê- wes O. V. 19, 54. höchſtens dürfte in einigen dieſer bei- ſpiele zwiſchen den beiden vordern genitiven ein nähe- res band angenommen werden (gotes-muomen barn, wintes-brûtî lê). Auffallend iſt das nhd. mutter-gottes-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/945
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 927. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/945>, abgerufen am 22.11.2024.