man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran ohne einen Grund dafür: so herr- lich ist die Sitte, ja auch das hat diese Poesie mit allem unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen andern Wil- len geneigt seyn muß. Leicht wird man übrigens bemerken, daß sie nur da gehaftet, wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Ver- kehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie gewesen. Wir wollen in gleichem Sinn hier die Märchen nicht rühmen, oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung vertheidigen: jenes bloße Daseyn reicht hin, sie zu schüz- zen. Was so mannichfach und immer wie- der von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Nothwendigkeit in sich, und ist gewiß aus jener ewigen Quelle ge- kommen, die alles Leben bethaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein klei- nes zusammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem ersten Morgenroth schimmernd.
Innerlich geht durch diese Dichtungen dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kin- der so wunderbar und seelig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben bläulich-weißen,
man ſie eben ſo empfangen hat, und freut ſich daran ohne einen Grund dafuͤr: ſo herr- lich iſt die Sitte, ja auch das hat dieſe Poeſie mit allem unvergaͤnglichen gemein, daß man ihr ſelbſt gegen einen andern Wil- len geneigt ſeyn muß. Leicht wird man uͤbrigens bemerken, daß ſie nur da gehaftet, wo uͤberhaupt eine regere Empfaͤnglichkeit fuͤr Poeſie oder eine noch nicht von den Ver- kehrtheiten des Lebens ausgeloͤſchte Phantaſie geweſen. Wir wollen in gleichem Sinn hier die Maͤrchen nicht ruͤhmen, oder gar gegen eine entgegengeſetzte Meinung vertheidigen: jenes bloße Daſeyn reicht hin, ſie zu ſchuͤz- zen. Was ſo mannichfach und immer wie- der von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das traͤgt ſeine Nothwendigkeit in ſich, und iſt gewiß aus jener ewigen Quelle ge- kommen, die alles Leben bethaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein klei- nes zuſammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem erſten Morgenroth ſchimmernd.
Innerlich geht durch dieſe Dichtungen dieſelbe Reinheit, um derentwillen uns Kin- der ſo wunderbar und ſeelig erſcheinen; ſie haben gleichſam dieſelben blaͤulich-weißen,
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[VIII/0014]
man ſie eben ſo empfangen hat, und freut
ſich daran ohne einen Grund dafuͤr: ſo herr-
lich iſt die Sitte, ja auch das hat dieſe
Poeſie mit allem unvergaͤnglichen gemein,
daß man ihr ſelbſt gegen einen andern Wil-
len geneigt ſeyn muß. Leicht wird man
uͤbrigens bemerken, daß ſie nur da gehaftet,
wo uͤberhaupt eine regere Empfaͤnglichkeit
fuͤr Poeſie oder eine noch nicht von den Ver-
kehrtheiten des Lebens ausgeloͤſchte Phantaſie
geweſen. Wir wollen in gleichem Sinn hier
die Maͤrchen nicht ruͤhmen, oder gar gegen
eine entgegengeſetzte Meinung vertheidigen:
jenes bloße Daſeyn reicht hin, ſie zu ſchuͤz-
zen. Was ſo mannichfach und immer wie-
der von neuem erfreut, bewegt und belehrt
hat, das traͤgt ſeine Nothwendigkeit in ſich,
und iſt gewiß aus jener ewigen Quelle ge-
kommen, die alles Leben bethaut, und wenn
auch nur ein einziger Tropfen, den ein klei-
nes zuſammenhaltendes Blatt gefaßt, doch
in dem erſten Morgenroth ſchimmernd.
Innerlich geht durch dieſe Dichtungen
dieſelbe Reinheit, um derentwillen uns Kin-
der ſo wunderbar und ſeelig erſcheinen; ſie
haben gleichſam dieſelben blaͤulich-weißen,
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. VIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/14>, abgerufen am 21.11.2024.
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