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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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"Spieglein, Spieglein an der Wand:
wer ist die schönste Frau in dem ganzen Land?"

da antworte er:
"Ihr, Frau Königin, seyd die schönste Frau
im Land!"

"Nun hab ich Ruhe" sprach sie, da ich wieder
die schönste im Lande bin, und Sneewittchen
wird diesmal wohl todt bleiben."

Die Zwerglein kamen Abends aus den Berg-
werken nach Haus, da lag das liebe Sneewitt-
chen auf dem Boden und war todt. Sie schnür-
ten es auf und sahen, ob sie nichts giftiges in
seinen Haaren fänden, es half aber alles nichts,
sie konnten es nicht wieder lebendig machen. Sie
legten es auf eine Bahre, setzten sich alle sieben
daran, weinten und weinten drei Tage lang,
dann wollten sie es begraben, da sahen sie aber
daß es noch frisch und gar nicht wie ein Todter
aussah, und daß es auch seine schönen rothen
Backen noch hatte. Da ließen sie einen Sarg
von Glas machen, legten es hinein, daß man
es recht sehen konnte, schrieben auch mit golde-
nen Buchstaben seinen Namen darauf und sei-
ne Abstammung, und einer blieb jeden Tag zu
Haus und bewachte es.

So lag Sneewittchen lange, lange Zeit
in dem Sarg und verweste nicht, war noch so
weiß als Schnee, und so roth als Blut, und

„Spieglein, Spieglein an der Wand:
wer iſt die ſchoͤnſte Frau in dem ganzen Land?“

da antworte er:
„Ihr, Frau Koͤnigin, ſeyd die ſchoͤnſte Frau
im Land!“

„Nun hab ich Ruhe“ ſprach ſie, da ich wieder
die ſchoͤnſte im Lande bin, und Sneewittchen
wird diesmal wohl todt bleiben.“

Die Zwerglein kamen Abends aus den Berg-
werken nach Haus, da lag das liebe Sneewitt-
chen auf dem Boden und war todt. Sie ſchnuͤr-
ten es auf und ſahen, ob ſie nichts giftiges in
ſeinen Haaren faͤnden, es half aber alles nichts,
ſie konnten es nicht wieder lebendig machen. Sie
legten es auf eine Bahre, ſetzten ſich alle ſieben
daran, weinten und weinten drei Tage lang,
dann wollten ſie es begraben, da ſahen ſie aber
daß es noch friſch und gar nicht wie ein Todter
ausſah, und daß es auch ſeine ſchoͤnen rothen
Backen noch hatte. Da ließen ſie einen Sarg
von Glas machen, legten es hinein, daß man
es recht ſehen konnte, ſchrieben auch mit golde-
nen Buchſtaben ſeinen Namen darauf und ſei-
ne Abſtammung, und einer blieb jeden Tag zu
Haus und bewachte es.

So lag Sneewittchen lange, lange Zeit
in dem Sarg und verweſte nicht, war noch ſo
weiß als Schnee, und ſo roth als Blut, und

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[247/0281] „Spieglein, Spieglein an der Wand: wer iſt die ſchoͤnſte Frau in dem ganzen Land?“ da antworte er: „Ihr, Frau Koͤnigin, ſeyd die ſchoͤnſte Frau im Land!“ „Nun hab ich Ruhe“ ſprach ſie, da ich wieder die ſchoͤnſte im Lande bin, und Sneewittchen wird diesmal wohl todt bleiben.“ Die Zwerglein kamen Abends aus den Berg- werken nach Haus, da lag das liebe Sneewitt- chen auf dem Boden und war todt. Sie ſchnuͤr- ten es auf und ſahen, ob ſie nichts giftiges in ſeinen Haaren faͤnden, es half aber alles nichts, ſie konnten es nicht wieder lebendig machen. Sie legten es auf eine Bahre, ſetzten ſich alle ſieben daran, weinten und weinten drei Tage lang, dann wollten ſie es begraben, da ſahen ſie aber daß es noch friſch und gar nicht wie ein Todter ausſah, und daß es auch ſeine ſchoͤnen rothen Backen noch hatte. Da ließen ſie einen Sarg von Glas machen, legten es hinein, daß man es recht ſehen konnte, ſchrieben auch mit golde- nen Buchſtaben ſeinen Namen darauf und ſei- ne Abſtammung, und einer blieb jeden Tag zu Haus und bewachte es. So lag Sneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweſte nicht, war noch ſo weiß als Schnee, und ſo roth als Blut, und

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/281>, abgerufen am 22.11.2024.