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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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52.
König Droßelbart.

Ein König hatte eine Tochter, die war wunderschön, aber stolz und übermüthig, so daß ihr kein Freier gut genug war und sie einen nach dem andern abwies, und noch dazu Spott mit ihnen trieb. Einmal ließ der König ein großes Fest anstellen und lud dazu alle heirathslustigen Männer ein, die wurden in eine Reihe, nach ihrem Rang und Stand geordnet; erst kamen die Könige, dann die Herzoge, die Fürsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun wurde die Königstochter durch die Reihen geführt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick: "das Weinfaß!" sprach sie. Der andere zu lang: "lang und schwank hat keinen Gang!" der dritte zu kurz: "kurz und dick hat kein Geschick!" der vierte zu blaß: "der bleiche Tod!" der fünfte zu roth: "der Zinshahn!" der sechste war nicht gerad genug: "grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!" und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand, und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. "Ei, rief sie und lachte, der hat ein Kinn, wie die Droßel einen Schnabel!" und seit der Zeit bekam er den Namen Droßelbart. Der alte König aber, als er sah, daß seine Tochter nichts that, als über die Leute spotten und alle Freier die da versammelt waren verschmähte, ward er zornig und schwur, sie

52.
Koͤnig Droßelbart.

Ein Koͤnig hatte eine Tochter, die war wunderschoͤn, aber stolz und uͤbermuͤthig, so daß ihr kein Freier gut genug war und sie einen nach dem andern abwies, und noch dazu Spott mit ihnen trieb. Einmal ließ der Koͤnig ein großes Fest anstellen und lud dazu alle heirathslustigen Maͤnner ein, die wurden in eine Reihe, nach ihrem Rang und Stand geordnet; erst kamen die Koͤnige, dann die Herzoge, die Fuͤrsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun wurde die Koͤnigstochter durch die Reihen gefuͤhrt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick: „das Weinfaß!“ sprach sie. Der andere zu lang: „lang und schwank hat keinen Gang!“ der dritte zu kurz: „kurz und dick hat kein Geschick!“ der vierte zu blaß: „der bleiche Tod!“ der fuͤnfte zu roth: „der Zinshahn!“ der sechste war nicht gerad genug: „gruͤnes Holz, hinterm Ofen getrocknet!“ und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich uͤber einen guten Koͤnig lustig, der ganz oben stand, und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. „Ei, rief sie und lachte, der hat ein Kinn, wie die Droßel einen Schnabel!“ und seit der Zeit bekam er den Namen Droßelbart. Der alte Koͤnig aber, als er sah, daß seine Tochter nichts that, als uͤber die Leute spotten und alle Freier die da versammelt waren verschmaͤhte, ward er zornig und schwur, sie

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[257/0321] 52. Koͤnig Droßelbart. Ein Koͤnig hatte eine Tochter, die war wunderschoͤn, aber stolz und uͤbermuͤthig, so daß ihr kein Freier gut genug war und sie einen nach dem andern abwies, und noch dazu Spott mit ihnen trieb. Einmal ließ der Koͤnig ein großes Fest anstellen und lud dazu alle heirathslustigen Maͤnner ein, die wurden in eine Reihe, nach ihrem Rang und Stand geordnet; erst kamen die Koͤnige, dann die Herzoge, die Fuͤrsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Nun wurde die Koͤnigstochter durch die Reihen gefuͤhrt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick: „das Weinfaß!“ sprach sie. Der andere zu lang: „lang und schwank hat keinen Gang!“ der dritte zu kurz: „kurz und dick hat kein Geschick!“ der vierte zu blaß: „der bleiche Tod!“ der fuͤnfte zu roth: „der Zinshahn!“ der sechste war nicht gerad genug: „gruͤnes Holz, hinterm Ofen getrocknet!“ und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich uͤber einen guten Koͤnig lustig, der ganz oben stand, und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. „Ei, rief sie und lachte, der hat ein Kinn, wie die Droßel einen Schnabel!“ und seit der Zeit bekam er den Namen Droßelbart. Der alte Koͤnig aber, als er sah, daß seine Tochter nichts that, als uͤber die Leute spotten und alle Freier die da versammelt waren verschmaͤhte, ward er zornig und schwur, sie

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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/321>, abgerufen am 25.11.2024.