Eine Wittwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit thun, und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich hinaus auf die große Straße bei einem Brunnen setzen, und so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen, und wollte sie abwaschen: sie sprang ihm aber aus der Hand, und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter, und erzählte ihr das Unglück: sie schalt es heftig, und war so unbarmherzig, daß sie sprach 'hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.' Da gieng das Mädchen zu dem Brunnen zurück, und wußte nicht was es anfangen sollte, und sprang in seiner Angst in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Als es erwachte, und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne, und waren viel tausend Blumen. Auf der Wiese gieng es fort, und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief 'ach, zieh mich raus, zieh
24. Frau Holle.
Eine Wittwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit thun, und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich hinaus auf die große Straße bei einem Brunnen setzen, und so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen, und wollte sie abwaschen: sie sprang ihm aber aus der Hand, und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter, und erzählte ihr das Unglück: sie schalt es heftig, und war so unbarmherzig, daß sie sprach ‘hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.’ Da gieng das Mädchen zu dem Brunnen zurück, und wußte nicht was es anfangen sollte, und sprang in seiner Angst in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Als es erwachte, und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne, und waren viel tausend Blumen. Auf der Wiese gieng es fort, und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief ‘ach, zieh mich raus, zieh
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24.
Frau Holle.
Eine Wittwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit thun, und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich hinaus auf die große Straße bei einem Brunnen setzen, und so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen, und wollte sie abwaschen: sie sprang ihm aber aus der Hand, und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter, und erzählte ihr das Unglück: sie schalt es heftig, und war so unbarmherzig, daß sie sprach ‘hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.’ Da gieng das Mädchen zu dem Brunnen zurück, und wußte nicht was es anfangen sollte, und sprang in seiner Angst in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Als es erwachte, und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, da schien die Sonne, und waren viel tausend Blumen. Auf der Wiese gieng es fort, und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief ‘ach, zieh mich raus, zieh
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1840, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1840/203>, abgerufen am 16.02.2025.
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