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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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erst in dem Abgesang gebunden werden, oder gar in und mit
der folgenden Strophe 32). Was die Silbengleichheit angeht,
so ist sie zu natürlich, als daß sie im eigentlichen Sinn ver-
letzt werden könnte. Doch muß man hier den alten einfachen
Minneliedern eine Freiheit vor den spätern Meistergesängen
zulassen, die erstern gleichen darin oft noch dem Volksgesang,
daß sie unter dieselbe Melodie ein Paar Silben mehr bringen,
oder einige weniger und in die Länge ziehen können. Am lieb-
sten ergibt sich die Schlußzeile des zweiten Stollen einer größe-
ren Länge. Man vergleiche Friedrich von Husens Lied: wol ir
sie ist etc. (1. 95. und im weimar. C. in schlechtem Text aber
mit zwei Strophen mehr.) Hier neigt die vierte Zeile über
die ihr entsprechende zweite sichtlich hinaus in den beiden er-
sten Strophen, allein fast gar nicht in der dritten, und im
weimarischen Text dieses Gesangs scheinen sich beide Zeilen in
allen Strophen gleich zu seyn.

Der Abgesang ist gewöhnlich keiner weiteren Zerlegung
fähig, zuweilen könnte man ihn auch in zwei eigene Theile zer-
schneiden, wo sich aber fast immer zuletzt ein Anhang findet.
Uebrigens kann er länger oder kürzer seyn, als die beiden
Stollen zusammen, oder gar kürzer, als einzelne 33). Man
fühlt zugleich, daß die ungewöhnlicheren Fälle doch etwas stei-
fes, unbefriedigendes in sich tragen, dagegen ist ein anderer
ziemlich häufiger, wo in dem Abgesang einzelne Partien aus

32) Für letzteres haben die spätern Meister den technischen Ausdruck
Korn oder Körner.
33) Z. B. Dietmar v. Ast (1. 40. Lied: "ich sufte und hilfet etc.")
und derselbe Ton in dem ersten Lied des Burggr. v. Liunz
(1. 90.), in welchen beiden der Stoll 4, der Abh. nur 2 Zeilen
hat. Dasselbe Verhältniß in anderem Ausdruck bei Winli
(2. 23. Lied: swer in leide etc.) Für den späten Meistergesang
begnüge ich mit den Beispielen von Nunnenbecks abgeschie-
denem und Kettners hohem Ton.

erſt in dem Abgeſang gebunden werden, oder gar in und mit
der folgenden Strophe 32). Was die Silbengleichheit angeht,
ſo iſt ſie zu natuͤrlich, als daß ſie im eigentlichen Sinn ver-
letzt werden koͤnnte. Doch muß man hier den alten einfachen
Minneliedern eine Freiheit vor den ſpaͤtern Meiſtergeſaͤngen
zulaſſen, die erſtern gleichen darin oft noch dem Volksgeſang,
daß ſie unter dieſelbe Melodie ein Paar Silben mehr bringen,
oder einige weniger und in die Laͤnge ziehen koͤnnen. Am lieb-
ſten ergibt ſich die Schlußzeile des zweiten Stollen einer groͤße-
ren Laͤnge. Man vergleiche Friedrich von Huſens Lied: wol ir
ſie iſt ꝛc. (1. 95. und im weimar. C. in ſchlechtem Text aber
mit zwei Strophen mehr.) Hier neigt die vierte Zeile uͤber
die ihr entſprechende zweite ſichtlich hinaus in den beiden er-
ſten Strophen, allein faſt gar nicht in der dritten, und im
weimariſchen Text dieſes Geſangs ſcheinen ſich beide Zeilen in
allen Strophen gleich zu ſeyn.

Der Abgeſang iſt gewoͤhnlich keiner weiteren Zerlegung
faͤhig, zuweilen koͤnnte man ihn auch in zwei eigene Theile zer-
ſchneiden, wo ſich aber faſt immer zuletzt ein Anhang findet.
Uebrigens kann er laͤnger oder kuͤrzer ſeyn, als die beiden
Stollen zuſammen, oder gar kuͤrzer, als einzelne 33). Man
fuͤhlt zugleich, daß die ungewoͤhnlicheren Faͤlle doch etwas ſtei-
fes, unbefriedigendes in ſich tragen, dagegen iſt ein anderer
ziemlich haͤufiger, wo in dem Abgeſang einzelne Partien aus

32) Fuͤr letzteres haben die ſpaͤtern Meiſter den techniſchen Ausdruck
Korn oder Koͤrner.
33) Z. B. Dietmar v. Aſt (1. 40. Lied: „ich ſufte und hilfet ꝛc.“)
und derſelbe Ton in dem erſten Lied des Burggr. v. Liunz
(1. 90.), in welchen beiden der Stoll 4, der Abh. nur 2 Zeilen
hat. Dasſelbe Verhaͤltniß in anderem Ausdruck bei Winli
(2. 23. Lied: ſwer in leide ꝛc.) Fuͤr den ſpaͤten Meiſtergeſang
begnuͤge ich mit den Beiſpielen von Nunnenbecks abgeſchie-
denem und Kettners hohem Ton.
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[45/0055] erſt in dem Abgeſang gebunden werden, oder gar in und mit der folgenden Strophe 32). Was die Silbengleichheit angeht, ſo iſt ſie zu natuͤrlich, als daß ſie im eigentlichen Sinn ver- letzt werden koͤnnte. Doch muß man hier den alten einfachen Minneliedern eine Freiheit vor den ſpaͤtern Meiſtergeſaͤngen zulaſſen, die erſtern gleichen darin oft noch dem Volksgeſang, daß ſie unter dieſelbe Melodie ein Paar Silben mehr bringen, oder einige weniger und in die Laͤnge ziehen koͤnnen. Am lieb- ſten ergibt ſich die Schlußzeile des zweiten Stollen einer groͤße- ren Laͤnge. Man vergleiche Friedrich von Huſens Lied: wol ir ſie iſt ꝛc. (1. 95. und im weimar. C. in ſchlechtem Text aber mit zwei Strophen mehr.) Hier neigt die vierte Zeile uͤber die ihr entſprechende zweite ſichtlich hinaus in den beiden er- ſten Strophen, allein faſt gar nicht in der dritten, und im weimariſchen Text dieſes Geſangs ſcheinen ſich beide Zeilen in allen Strophen gleich zu ſeyn. Der Abgeſang iſt gewoͤhnlich keiner weiteren Zerlegung faͤhig, zuweilen koͤnnte man ihn auch in zwei eigene Theile zer- ſchneiden, wo ſich aber faſt immer zuletzt ein Anhang findet. Uebrigens kann er laͤnger oder kuͤrzer ſeyn, als die beiden Stollen zuſammen, oder gar kuͤrzer, als einzelne 33). Man fuͤhlt zugleich, daß die ungewoͤhnlicheren Faͤlle doch etwas ſtei- fes, unbefriedigendes in ſich tragen, dagegen iſt ein anderer ziemlich haͤufiger, wo in dem Abgeſang einzelne Partien aus 32) Fuͤr letzteres haben die ſpaͤtern Meiſter den techniſchen Ausdruck Korn oder Koͤrner. 33) Z. B. Dietmar v. Aſt (1. 40. Lied: „ich ſufte und hilfet ꝛc.“) und derſelbe Ton in dem erſten Lied des Burggr. v. Liunz (1. 90.), in welchen beiden der Stoll 4, der Abh. nur 2 Zeilen hat. Dasſelbe Verhaͤltniß in anderem Ausdruck bei Winli (2. 23. Lied: ſwer in leide ꝛc.) Fuͤr den ſpaͤten Meiſtergeſang begnuͤge ich mit den Beiſpielen von Nunnenbecks abgeſchie- denem und Kettners hohem Ton.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/55>, abgerufen am 21.11.2024.