Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835.Talleyrand. ropa viel Sympathie für seine graziösen Meineideherrscht, und es ist nicht schwer, dafür eine Ursache an¬ zugeben. Es gibt Leute, welche den greisen Priester für einen verkannten Propheten ansehen. Man ver¬ gleicht ihn mit Sokrates, welcher außer seinem eigenen himmlischen Geiste noch einen besondern in Diensten hatte, der ihm Rath, Warnung und die Zukunft gab. Talleyrands Sehergeist wird bald ein Instinkt, bald eine Offenbarung genannt. Was davon zu halten sei, wis¬ sen wir nicht, wollen aber sein Leben deshalb zu Rathe ziehen. Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, seine Kokarde bald weiß, bald bunt zu färben? War sein Leben die Einflüsterung eines besonderen Genius, der ihn zu seinem Liebling gemacht hatte? Besaß Talley¬ rand eine unveränderliche Idee, eine pensee immuable, wie Louis Philipp? Wir wollen sehen. Es war schon einige Jahre vor der konstituirenden Versammlung, daß der junge Bischof von Autun sich in der besten und abwechselnd in der schlechtesten Gesellschaft von Paris sehen ließ. Er hatte damals nur Ein Geschäft: näm¬ lich alle Welt davon zu überzeugen, daß er kein wah¬ rer Priester sei. Seine Kehle, noch heiser von der Messe, die er im Stifte hatte singen müssen, sein An¬ stand, noch kämpfend mit dem Priesterrocke, der dem Talleyrand. ropa viel Sympathie fuͤr ſeine grazioͤſen Meineideherrſcht, und es iſt nicht ſchwer, dafuͤr eine Urſache an¬ zugeben. Es gibt Leute, welche den greiſen Prieſter fuͤr einen verkannten Propheten anſehen. Man ver¬ gleicht ihn mit Sokrates, welcher außer ſeinem eigenen himmliſchen Geiſte noch einen beſondern in Dienſten hatte, der ihm Rath, Warnung und die Zukunft gab. Talleyrands Sehergeiſt wird bald ein Inſtinkt, bald eine Offenbarung genannt. Was davon zu halten ſei, wiſ¬ ſen wir nicht, wollen aber ſein Leben deshalb zu Rathe ziehen. Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, ſeine Kokarde bald weiß, bald bunt zu faͤrben? War ſein Leben die Einfluͤſterung eines beſonderen Genius, der ihn zu ſeinem Liebling gemacht hatte? Beſaß Talley¬ rand eine unveraͤnderliche Idee, eine pensèe immuable, wie Louis Philipp? Wir wollen ſehen. Es war ſchon einige Jahre vor der konſtituirenden Verſammlung, daß der junge Biſchof von Autun ſich in der beſten und abwechſelnd in der ſchlechteſten Geſellſchaft von Paris ſehen ließ. Er hatte damals nur Ein Geſchaͤft: naͤm¬ lich alle Welt davon zu uͤberzeugen, daß er kein wah¬ rer Prieſter ſei. Seine Kehle, noch heiſer von der Meſſe, die er im Stifte hatte ſingen muͤſſen, ſein An¬ ſtand, noch kaͤmpfend mit dem Prieſterrocke, der dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="4"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Talleyrand</hi>.<lb/></fw> ropa viel Sympathie fuͤr ſeine grazioͤſen Meineide<lb/> herrſcht, und es iſt nicht ſchwer, dafuͤr eine Urſache an¬<lb/> zugeben. Es gibt Leute, welche den greiſen Prieſter<lb/> fuͤr einen verkannten Propheten anſehen. Man ver¬<lb/> gleicht ihn mit Sokrates, welcher außer ſeinem eigenen<lb/> himmliſchen Geiſte noch einen beſondern in Dienſten<lb/> hatte, der ihm Rath, Warnung und die Zukunft gab.<lb/> Talleyrands Sehergeiſt wird bald ein Inſtinkt, bald eine<lb/> Offenbarung genannt. Was davon zu halten ſei, wiſ¬<lb/> ſen wir nicht, wollen aber ſein Leben deshalb zu Rathe<lb/> ziehen. Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, ſeine<lb/> Kokarde bald weiß, bald bunt zu faͤrben? War ſein<lb/> Leben die Einfluͤſterung eines beſonderen Genius, der<lb/> ihn zu ſeinem Liebling gemacht hatte? Beſaß Talley¬<lb/> rand eine unveraͤnderliche Idee, eine <hi rendition="#aq">pensèe immuable</hi>,<lb/> wie Louis Philipp? Wir wollen ſehen. Es war ſchon<lb/> einige Jahre vor der konſtituirenden Verſammlung, daß<lb/> der junge Biſchof von Autun ſich in der beſten und<lb/> abwechſelnd in der ſchlechteſten Geſellſchaft von Paris<lb/> ſehen ließ. Er hatte damals nur Ein Geſchaͤft: naͤm¬<lb/> lich alle Welt davon zu uͤberzeugen, daß er kein wah¬<lb/> rer Prieſter ſei. Seine Kehle, noch heiſer von der<lb/> Meſſe, die er im Stifte hatte ſingen muͤſſen, ſein An¬<lb/> ſtand, noch kaͤmpfend mit dem Prieſterrocke, der dem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [4/0022]
Talleyrand.
ropa viel Sympathie fuͤr ſeine grazioͤſen Meineide
herrſcht, und es iſt nicht ſchwer, dafuͤr eine Urſache an¬
zugeben. Es gibt Leute, welche den greiſen Prieſter
fuͤr einen verkannten Propheten anſehen. Man ver¬
gleicht ihn mit Sokrates, welcher außer ſeinem eigenen
himmliſchen Geiſte noch einen beſondern in Dienſten
hatte, der ihm Rath, Warnung und die Zukunft gab.
Talleyrands Sehergeiſt wird bald ein Inſtinkt, bald eine
Offenbarung genannt. Was davon zu halten ſei, wiſ¬
ſen wir nicht, wollen aber ſein Leben deshalb zu Rathe
ziehen. Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, ſeine
Kokarde bald weiß, bald bunt zu faͤrben? War ſein
Leben die Einfluͤſterung eines beſonderen Genius, der
ihn zu ſeinem Liebling gemacht hatte? Beſaß Talley¬
rand eine unveraͤnderliche Idee, eine pensèe immuable,
wie Louis Philipp? Wir wollen ſehen. Es war ſchon
einige Jahre vor der konſtituirenden Verſammlung, daß
der junge Biſchof von Autun ſich in der beſten und
abwechſelnd in der ſchlechteſten Geſellſchaft von Paris
ſehen ließ. Er hatte damals nur Ein Geſchaͤft: naͤm¬
lich alle Welt davon zu uͤberzeugen, daß er kein wah¬
rer Prieſter ſei. Seine Kehle, noch heiſer von der
Meſſe, die er im Stifte hatte ſingen muͤſſen, ſein An¬
ſtand, noch kaͤmpfend mit dem Prieſterrocke, der dem
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