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Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835.

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Chateaubriand.
er mit ins Grab nehmen wird. Er blieb sich immer
gleich, ein schüchterner junger Mensch, der vom Lande
kommt, froh am Geringfügigen, überrascht von Allem,
ohne Voraussicht, wie ein Kind; aber auch ungedul¬
dig, zornig und ungerecht wie ein Kind.

Chateaubriand ist ein Greis geworden, ohne ein
Mann gewesen zu sein. Gewohnt, nur in unbegründe¬
ten Hoffnungen zu leben, nahm er seine Erfahrung für
eine feindselige Macht, die ihn überall enttäuschte.
Alles, was ihm geschah, hielt er für eine Vorbereitung,
und rechnete, daß immer noch eine Zeit kommen werde,
wo er von seiner Vergangenheit Vortheil ziehen würde.
Aber darüber ist er alt geworden, seine Jugend hat bis
an sein Grab gedauert.

Könnte dies die Erfahrung eines reifen Charakters
gewesen seyn, so müßte seine Verzweiflung jetzt tra¬
gisch und des tiefsten Mitleids würdig werden; doch
Chateaubriand fühlt diesen Widerspruch nicht: es gibt
Nichts, wofür er Alles hingegeben hätte; er lebte ohne
Plan, er hatte das sonderbare Schicksal, immer zu spät
zu kommen. Er hat viel verloren, ohne je etwas be¬
sessen zu haben; er ist oft gefallen, ohne daß er je
aufrecht stand; man vergaß ihn immer, ohne daß man
je recht an ihn dachte.

Chateaubriand.
er mit ins Grab nehmen wird. Er blieb ſich immer
gleich, ein ſchuͤchterner junger Menſch, der vom Lande
kommt, froh am Geringfuͤgigen, uͤberraſcht von Allem,
ohne Vorausſicht, wie ein Kind; aber auch ungedul¬
dig, zornig und ungerecht wie ein Kind.

Chateaubriand iſt ein Greis geworden, ohne ein
Mann geweſen zu ſein. Gewohnt, nur in unbegruͤnde¬
ten Hoffnungen zu leben, nahm er ſeine Erfahrung fuͤr
eine feindſelige Macht, die ihn uͤberall enttaͤuſchte.
Alles, was ihm geſchah, hielt er fuͤr eine Vorbereitung,
und rechnete, daß immer noch eine Zeit kommen werde,
wo er von ſeiner Vergangenheit Vortheil ziehen wuͤrde.
Aber daruͤber iſt er alt geworden, ſeine Jugend hat bis
an ſein Grab gedauert.

Koͤnnte dies die Erfahrung eines reifen Charakters
geweſen ſeyn, ſo muͤßte ſeine Verzweiflung jetzt tra¬
giſch und des tiefſten Mitleids wuͤrdig werden; doch
Chateaubriand fuͤhlt dieſen Widerſpruch nicht: es gibt
Nichts, wofuͤr er Alles hingegeben haͤtte; er lebte ohne
Plan, er hatte das ſonderbare Schickſal, immer zu ſpaͤt
zu kommen. Er hat viel verloren, ohne je etwas be¬
ſeſſen zu haben; er iſt oft gefallen, ohne daß er je
aufrecht ſtand; man vergaß ihn immer, ohne daß man
je recht an ihn dachte.

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[56/0074] Chateaubriand. er mit ins Grab nehmen wird. Er blieb ſich immer gleich, ein ſchuͤchterner junger Menſch, der vom Lande kommt, froh am Geringfuͤgigen, uͤberraſcht von Allem, ohne Vorausſicht, wie ein Kind; aber auch ungedul¬ dig, zornig und ungerecht wie ein Kind. Chateaubriand iſt ein Greis geworden, ohne ein Mann geweſen zu ſein. Gewohnt, nur in unbegruͤnde¬ ten Hoffnungen zu leben, nahm er ſeine Erfahrung fuͤr eine feindſelige Macht, die ihn uͤberall enttaͤuſchte. Alles, was ihm geſchah, hielt er fuͤr eine Vorbereitung, und rechnete, daß immer noch eine Zeit kommen werde, wo er von ſeiner Vergangenheit Vortheil ziehen wuͤrde. Aber daruͤber iſt er alt geworden, ſeine Jugend hat bis an ſein Grab gedauert. Koͤnnte dies die Erfahrung eines reifen Charakters geweſen ſeyn, ſo muͤßte ſeine Verzweiflung jetzt tra¬ giſch und des tiefſten Mitleids wuͤrdig werden; doch Chateaubriand fuͤhlt dieſen Widerſpruch nicht: es gibt Nichts, wofuͤr er Alles hingegeben haͤtte; er lebte ohne Plan, er hatte das ſonderbare Schickſal, immer zu ſpaͤt zu kommen. Er hat viel verloren, ohne je etwas be¬ ſeſſen zu haben; er iſt oft gefallen, ohne daß er je aufrecht ſtand; man vergaß ihn immer, ohne daß man je recht an ihn dachte.

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Öffentliche Charaktere. Bd. 1. Hamburg, 1835, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_charaktere_1835/74>, abgerufen am 21.11.2024.