Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.verstehen, kam aber von selbst dazu, indem man die Naivetät der Empfindungen und unmittelbar von der Natur gegebener Charaktere zu einem konsequenten Genre in der Literatur ausbildete. Diese Umwandelung der dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich gewesenen ästhetischen Begriffe theilte sich schnell von England aus dem Festlande mit, gab besonders der deutschen Poesie einen belebenden Jmpuls, und reagirte auch in sofern gegen den französischen Parnaß, als dieser es vorzog, statt fremde Regeln anzunehmen, lieber zu verstummen und die Fortbildung der Literatur der überaus gewandten und glänzenden prosaischen Schreibart zu überlassen. Könnte man, wenn man einmal annehmen muß, daß an die Stelle der Literatur jezt die Politik getreten ist, nicht diesen ganzen Verlauf auch auf unsere Zeit anwenden? Wir befinden uns gegenwärtig noch wie im vorigen Jahrhundert in der unmittelbaren Abhängigkeit von französischen Vorstellungen. Unsere politische Aristokratie, unser Conservatismus fast auf dem ganzen Continente hat noch ganz, nach dem ästhetischen Maßstabe beurtheilt, den Zuschnitt jener schwerfälligen Muse, welche von den Dichtern zu jener Zeit angerufen wurde, als man den westphälischen Frieden schloß. Unser Liberalismus ist der Modezuschnitt der Reifrockstragödie, ein Schematismus von Fischbein, der, wenn er sich überlebt haben verstehen, kam aber von selbst dazu, indem man die Naivetät der Empfindungen und unmittelbar von der Natur gegebener Charaktere zu einem konsequenten Genre in der Literatur ausbildete. Diese Umwandelung der dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich gewesenen ästhetischen Begriffe theilte sich schnell von England aus dem Festlande mit, gab besonders der deutschen Poesie einen belebenden Jmpuls, und reagirte auch in sofern gegen den französischen Parnaß, als dieser es vorzog, statt fremde Regeln anzunehmen, lieber zu verstummen und die Fortbildung der Literatur der überaus gewandten und glänzenden prosaischen Schreibart zu überlassen. Könnte man, wenn man einmal annehmen muß, daß an die Stelle der Literatur jezt die Politik getreten ist, nicht diesen ganzen Verlauf auch auf unsere Zeit anwenden? Wir befinden uns gegenwärtig noch wie im vorigen Jahrhundert in der unmittelbaren Abhängigkeit von französischen Vorstellungen. Unsere politische Aristokratie, unser Conservatismus fast auf dem ganzen Continente hat noch ganz, nach dem ästhetischen Maßstabe beurtheilt, den Zuschnitt jener schwerfälligen Muse, welche von den Dichtern zu jener Zeit angerufen wurde, als man den westphälischen Frieden schloß. Unser Liberalismus ist der Modezuschnitt der Reifrockstragödie, ein Schematismus von Fischbein, der, wenn er sich überlebt haben <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0407" n="405"/> verstehen, kam aber von selbst dazu, indem man die Naivetät der Empfindungen und unmittelbar von der Natur gegebener Charaktere zu einem konsequenten Genre in der Literatur ausbildete. Diese Umwandelung der dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich gewesenen ästhetischen Begriffe theilte sich schnell von England aus dem Festlande mit, gab besonders der deutschen Poesie einen belebenden Jmpuls, und reagirte auch in sofern gegen den französischen Parnaß, als dieser es vorzog, statt fremde Regeln anzunehmen, lieber zu verstummen und die Fortbildung der Literatur der überaus gewandten und glänzenden prosaischen Schreibart zu überlassen.</p> <p>Könnte man, wenn man einmal annehmen muß, daß an die Stelle der Literatur jezt die Politik getreten ist, nicht diesen ganzen Verlauf auch auf unsere Zeit anwenden? Wir befinden uns gegenwärtig noch wie im vorigen Jahrhundert in der unmittelbaren Abhängigkeit von französischen Vorstellungen. Unsere politische Aristokratie, unser Conservatismus fast auf dem ganzen Continente hat noch ganz, nach dem ästhetischen Maßstabe beurtheilt, den Zuschnitt jener schwerfälligen Muse, welche von den Dichtern zu jener Zeit angerufen wurde, als man den westphälischen Frieden schloß. Unser Liberalismus ist der Modezuschnitt der Reifrockstragödie, ein Schematismus von Fischbein, der, wenn er sich überlebt haben </p> </div> </body> </text> </TEI> [405/0407]
verstehen, kam aber von selbst dazu, indem man die Naivetät der Empfindungen und unmittelbar von der Natur gegebener Charaktere zu einem konsequenten Genre in der Literatur ausbildete. Diese Umwandelung der dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts eigenthümlich gewesenen ästhetischen Begriffe theilte sich schnell von England aus dem Festlande mit, gab besonders der deutschen Poesie einen belebenden Jmpuls, und reagirte auch in sofern gegen den französischen Parnaß, als dieser es vorzog, statt fremde Regeln anzunehmen, lieber zu verstummen und die Fortbildung der Literatur der überaus gewandten und glänzenden prosaischen Schreibart zu überlassen.
Könnte man, wenn man einmal annehmen muß, daß an die Stelle der Literatur jezt die Politik getreten ist, nicht diesen ganzen Verlauf auch auf unsere Zeit anwenden? Wir befinden uns gegenwärtig noch wie im vorigen Jahrhundert in der unmittelbaren Abhängigkeit von französischen Vorstellungen. Unsere politische Aristokratie, unser Conservatismus fast auf dem ganzen Continente hat noch ganz, nach dem ästhetischen Maßstabe beurtheilt, den Zuschnitt jener schwerfälligen Muse, welche von den Dichtern zu jener Zeit angerufen wurde, als man den westphälischen Frieden schloß. Unser Liberalismus ist der Modezuschnitt der Reifrockstragödie, ein Schematismus von Fischbein, der, wenn er sich überlebt haben
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/407>, abgerufen am 17.07.2024. |