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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Physiologische Individualität der Organismen.
Existenz fortführen, ohne sich selbst wieder zu einem Stocke zu ent-
wickeln, sind verhältnissmässig selten. Gewöhnlich finden wir viel-
mehr, dass Personen (Sprosse), welche künstlich oder natürlich von
einem Stocke abgelöst werden, virtuelle, und nicht bloss partielle
Bionten sind. Ein ausgezeichnetes Beispiel von partieller Individua-
lität bietet uns die merkwürdige Wasserpflanze Vallisneria spiralis,
bei welcher die kurzgestielten männlichen Personen (Blüthensprosse)
sich zur Blüthezeit vom Stocke trennen, um an die Oberfläche des
Wassers zu gelangen und dort schwimmend die langgestielten weib-
lichen Personen zu befruchten. Dieser interessante Fall bietet die
merkwürdigste Analogie mit den Medusen, den Proglottiden der Taenien
und den Hectocotylen der Cephalopoden. In allen drei Fällen lösen
sich geschlechtsreife Theile vom actuellen Bion ab, um als partielle
Bionten selbstständig zu erscheinen. Bei Vallisneria sind es morpho-
logische Individuen fünfter, bei den Medusen und den Proglottiden
vierter, beim Hectocotylus zweiter Ordnung, welche diese scheinbare
Selbstständigkeit erlangen. Einen geringeren Grad partieller Indivi-
dualität zeigen uns die reifen Früchte der Phanerogamen (während
die darin eingeschlossenen Samen virtuelle Bionten sind). Selbst die
abgerissenen Einzelblüthen der Phanerogamen (Geschlechts-Personen),
welche, in Wasser gesteckt, fortblühen, können hier aufgeführt werden.
Dasselbe gilt auch von vielen Personen der Coelenteraten, welche
abgelöst vom Stocke, noch eine Zeit lang fort vegetiren, ohne sich zu
dem actuellen Bion des Stockes ergänzen zu können.

VI. Die Stöcke als Bionten.
Physiologische Individuen sechster Ordnung.

Da die Stöcke oder Cormen die morphologischen Individuen der
letzten und höchsten Ordnung sind, so könnte es zunächst scheinen,
als ob in allen Fällen, wo echte, aus einem Complex von mehreren
Personen bestehende Stöcke überhaupt vorkommen, dieselben gleich-
zeitig auch physiologische Individuen sein müssten, und es ist dies in
gewissem Sinne richtig. Denn da keine höhere morphologische Indi-
vidualität über dem Stocke steht, so kann derselbe auch niemals als
subordinirtes Form-Individuum einer solchen eingefügt sein. Indessen
lässt sich doch bei den verschiedenen Cormus-Arten, und insbesondere
bei den verschiedenen Formen der zusammengesetzten Stöcke insofern
ein Unterschied hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur physiologischen Indi-
vidualisation nachweisen, als nicht alle einfachen Stöcke, welche an
jedem zusammengesetzten Cormus vereinigt sind, in gleichem Maasse
als Bionten erscheinen können. Es wird dies sofort klar, sobald man

Physiologische Individualität der Organismen.
Existenz fortführen, ohne sich selbst wieder zu einem Stocke zu ent-
wickeln, sind verhältnissmässig selten. Gewöhnlich finden wir viel-
mehr, dass Personen (Sprosse), welche künstlich oder natürlich von
einem Stocke abgelöst werden, virtuelle, und nicht bloss partielle
Bionten sind. Ein ausgezeichnetes Beispiel von partieller Individua-
lität bietet uns die merkwürdige Wasserpflanze Vallisneria spiralis,
bei welcher die kurzgestielten männlichen Personen (Blüthensprosse)
sich zur Blüthezeit vom Stocke trennen, um an die Oberfläche des
Wassers zu gelangen und dort schwimmend die langgestielten weib-
lichen Personen zu befruchten. Dieser interessante Fall bietet die
merkwürdigste Analogie mit den Medusen, den Proglottiden der Taenien
und den Hectocotylen der Cephalopoden. In allen drei Fällen lösen
sich geschlechtsreife Theile vom actuellen Bion ab, um als partielle
Bionten selbstständig zu erscheinen. Bei Vallisneria sind es morpho-
logische Individuen fünfter, bei den Medusen und den Proglottiden
vierter, beim Hectocotylus zweiter Ordnung, welche diese scheinbare
Selbstständigkeit erlangen. Einen geringeren Grad partieller Indivi-
dualität zeigen uns die reifen Früchte der Phanerogamen (während
die darin eingeschlossenen Samen virtuelle Bionten sind). Selbst die
abgerissenen Einzelblüthen der Phanerogamen (Geschlechts-Personen),
welche, in Wasser gesteckt, fortblühen, können hier aufgeführt werden.
Dasselbe gilt auch von vielen Personen der Coelenteraten, welche
abgelöst vom Stocke, noch eine Zeit lang fort vegetiren, ohne sich zu
dem actuellen Bion des Stockes ergänzen zu können.

VI. Die Stöcke als Bionten.
Physiologische Individuen sechster Ordnung.

Da die Stöcke oder Cormen die morphologischen Individuen der
letzten und höchsten Ordnung sind, so könnte es zunächst scheinen,
als ob in allen Fällen, wo echte, aus einem Complex von mehreren
Personen bestehende Stöcke überhaupt vorkommen, dieselben gleich-
zeitig auch physiologische Individuen sein müssten, und es ist dies in
gewissem Sinne richtig. Denn da keine höhere morphologische Indi-
vidualität über dem Stocke steht, so kann derselbe auch niemals als
subordinirtes Form-Individuum einer solchen eingefügt sein. Indessen
lässt sich doch bei den verschiedenen Cormus-Arten, und insbesondere
bei den verschiedenen Formen der zusammengesetzten Stöcke insofern
ein Unterschied hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur physiologischen Indi-
vidualisation nachweisen, als nicht alle einfachen Stöcke, welche an
jedem zusammengesetzten Cormus vereinigt sind, in gleichem Maasse
als Bionten erscheinen können. Es wird dies sofort klar, sobald man

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[360/0399] Physiologische Individualität der Organismen. Existenz fortführen, ohne sich selbst wieder zu einem Stocke zu ent- wickeln, sind verhältnissmässig selten. Gewöhnlich finden wir viel- mehr, dass Personen (Sprosse), welche künstlich oder natürlich von einem Stocke abgelöst werden, virtuelle, und nicht bloss partielle Bionten sind. Ein ausgezeichnetes Beispiel von partieller Individua- lität bietet uns die merkwürdige Wasserpflanze Vallisneria spiralis, bei welcher die kurzgestielten männlichen Personen (Blüthensprosse) sich zur Blüthezeit vom Stocke trennen, um an die Oberfläche des Wassers zu gelangen und dort schwimmend die langgestielten weib- lichen Personen zu befruchten. Dieser interessante Fall bietet die merkwürdigste Analogie mit den Medusen, den Proglottiden der Taenien und den Hectocotylen der Cephalopoden. In allen drei Fällen lösen sich geschlechtsreife Theile vom actuellen Bion ab, um als partielle Bionten selbstständig zu erscheinen. Bei Vallisneria sind es morpho- logische Individuen fünfter, bei den Medusen und den Proglottiden vierter, beim Hectocotylus zweiter Ordnung, welche diese scheinbare Selbstständigkeit erlangen. Einen geringeren Grad partieller Indivi- dualität zeigen uns die reifen Früchte der Phanerogamen (während die darin eingeschlossenen Samen virtuelle Bionten sind). Selbst die abgerissenen Einzelblüthen der Phanerogamen (Geschlechts-Personen), welche, in Wasser gesteckt, fortblühen, können hier aufgeführt werden. Dasselbe gilt auch von vielen Personen der Coelenteraten, welche abgelöst vom Stocke, noch eine Zeit lang fort vegetiren, ohne sich zu dem actuellen Bion des Stockes ergänzen zu können. VI. Die Stöcke als Bionten. Physiologische Individuen sechster Ordnung. Da die Stöcke oder Cormen die morphologischen Individuen der letzten und höchsten Ordnung sind, so könnte es zunächst scheinen, als ob in allen Fällen, wo echte, aus einem Complex von mehreren Personen bestehende Stöcke überhaupt vorkommen, dieselben gleich- zeitig auch physiologische Individuen sein müssten, und es ist dies in gewissem Sinne richtig. Denn da keine höhere morphologische Indi- vidualität über dem Stocke steht, so kann derselbe auch niemals als subordinirtes Form-Individuum einer solchen eingefügt sein. Indessen lässt sich doch bei den verschiedenen Cormus-Arten, und insbesondere bei den verschiedenen Formen der zusammengesetzten Stöcke insofern ein Unterschied hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur physiologischen Indi- vidualisation nachweisen, als nicht alle einfachen Stöcke, welche an jedem zusammengesetzten Cormus vereinigt sind, in gleichem Maasse als Bionten erscheinen können. Es wird dies sofort klar, sobald man

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/399>, abgerufen am 23.11.2024.