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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen.
und der Landwirthe erreicht hat, gestattet es jetzt in sehr kurzer Zeit,
in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflanzenform will-
kürlich zu schaffen. Man braucht zu diesem Zwecke bloß den Organis-
mus unter dem Einflusse der besonderen Bedingungen zu erhalten und
fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im Stande sind;
und man kann schon nach Verlauf von wenigen Generationen neue
Arten erhalten, welche von der Stammform in viel höherem Grade
abweichen, als die sogenannten guten Arten im wilden Zustande von
einander verschieden sind. Diese Thatsache ist äußerst wichtig und
kann nicht genug hervorgehoben werden. Es ist nicht wahr, wenn
behauptet wird, die Culturformen, die von einer und derselben Form
abstammen, seien nicht so sehr von einander verschieden, wie die wil-
den Thier- und Pflanzenarten unter sich. Wenn man nur unbe-
fangen Vergleiche anstellt, so läßt sich sehr leicht erkennen, daß eine
Menge von Rassen oder Spielarten, die wir in einer kurzen Reihe von
Jahren von einer einzigen Culturform abgeleitet haben, in höherem
Grade von einander unterschieden sind, als sogenannte gute Species
oder selbst verschiedene Gattungen (Genera) einer Familie im wilden
Zustande sich unterscheiden.

Um diese äußerst wichtige Thatsache möglichst fest empirisch zu
begründen, beschloß Darwin eine einzelne Gruppe von Hausthieren
speciell in dem ganzen Umfang ihrer Formenmannichfaltigkeit zu stu-
diren, und er wählte dazu die Haustauben, welche in mehrfacher
Beziehung für diesen Zweck ganz besonders geeignet sind. Er hielt
sich lange Zeit hindurch auf seinem Gute alle möglichen Rassen und
Spielarten von Tauben, welche er bekommen konnte, und wurde mit
reichlichen Zusendungen aus allen Weltgegenden unterstützt. Ferner
ließ er sich in zwei Londoner Taubenklubs aufnehmen, welche die
Züchtung der verschiedenen Taubenformen mit wahrhaft künstleri-
scher Virtuosität und unermüdlicher Leidenschaft betreiben. End-
lich setzte er sich noch mit Einigen der berühmtesten Taubenliebhaber
in Verbindung. So stand ihm das reichste empirische Material zur
Verfügung.

Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 8

Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen.
und der Landwirthe erreicht hat, geſtattet es jetzt in ſehr kurzer Zeit,
in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflanzenform will-
kuͤrlich zu ſchaffen. Man braucht zu dieſem Zwecke bloß den Organis-
mus unter dem Einfluſſe der beſonderen Bedingungen zu erhalten und
fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im Stande ſind;
und man kann ſchon nach Verlauf von wenigen Generationen neue
Arten erhalten, welche von der Stammform in viel hoͤherem Grade
abweichen, als die ſogenannten guten Arten im wilden Zuſtande von
einander verſchieden ſind. Dieſe Thatſache iſt aͤußerſt wichtig und
kann nicht genug hervorgehoben werden. Es iſt nicht wahr, wenn
behauptet wird, die Culturformen, die von einer und derſelben Form
abſtammen, ſeien nicht ſo ſehr von einander verſchieden, wie die wil-
den Thier- und Pflanzenarten unter ſich. Wenn man nur unbe-
fangen Vergleiche anſtellt, ſo laͤßt ſich ſehr leicht erkennen, daß eine
Menge von Raſſen oder Spielarten, die wir in einer kurzen Reihe von
Jahren von einer einzigen Culturform abgeleitet haben, in hoͤherem
Grade von einander unterſchieden ſind, als ſogenannte gute Species
oder ſelbſt verſchiedene Gattungen (Genera) einer Familie im wilden
Zuſtande ſich unterſcheiden.

Um dieſe aͤußerſt wichtige Thatſache moͤglichſt feſt empiriſch zu
begruͤnden, beſchloß Darwin eine einzelne Gruppe von Hausthieren
ſpeciell in dem ganzen Umfang ihrer Formenmannichfaltigkeit zu ſtu-
diren, und er waͤhlte dazu die Haustauben, welche in mehrfacher
Beziehung fuͤr dieſen Zweck ganz beſonders geeignet ſind. Er hielt
ſich lange Zeit hindurch auf ſeinem Gute alle moͤglichen Raſſen und
Spielarten von Tauben, welche er bekommen konnte, und wurde mit
reichlichen Zuſendungen aus allen Weltgegenden unterſtuͤtzt. Ferner
ließ er ſich in zwei Londoner Taubenklubs aufnehmen, welche die
Zuͤchtung der verſchiedenen Taubenformen mit wahrhaft kuͤnſtleri-
ſcher Virtuoſitaͤt und unermuͤdlicher Leidenſchaft betreiben. End-
lich ſetzte er ſich noch mit Einigen der beruͤhmteſten Taubenliebhaber
in Verbindung. So ſtand ihm das reichſte empiriſche Material zur
Verfuͤgung.

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[113/0134] Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen. und der Landwirthe erreicht hat, geſtattet es jetzt in ſehr kurzer Zeit, in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflanzenform will- kuͤrlich zu ſchaffen. Man braucht zu dieſem Zwecke bloß den Organis- mus unter dem Einfluſſe der beſonderen Bedingungen zu erhalten und fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im Stande ſind; und man kann ſchon nach Verlauf von wenigen Generationen neue Arten erhalten, welche von der Stammform in viel hoͤherem Grade abweichen, als die ſogenannten guten Arten im wilden Zuſtande von einander verſchieden ſind. Dieſe Thatſache iſt aͤußerſt wichtig und kann nicht genug hervorgehoben werden. Es iſt nicht wahr, wenn behauptet wird, die Culturformen, die von einer und derſelben Form abſtammen, ſeien nicht ſo ſehr von einander verſchieden, wie die wil- den Thier- und Pflanzenarten unter ſich. Wenn man nur unbe- fangen Vergleiche anſtellt, ſo laͤßt ſich ſehr leicht erkennen, daß eine Menge von Raſſen oder Spielarten, die wir in einer kurzen Reihe von Jahren von einer einzigen Culturform abgeleitet haben, in hoͤherem Grade von einander unterſchieden ſind, als ſogenannte gute Species oder ſelbſt verſchiedene Gattungen (Genera) einer Familie im wilden Zuſtande ſich unterſcheiden. Um dieſe aͤußerſt wichtige Thatſache moͤglichſt feſt empiriſch zu begruͤnden, beſchloß Darwin eine einzelne Gruppe von Hausthieren ſpeciell in dem ganzen Umfang ihrer Formenmannichfaltigkeit zu ſtu- diren, und er waͤhlte dazu die Haustauben, welche in mehrfacher Beziehung fuͤr dieſen Zweck ganz beſonders geeignet ſind. Er hielt ſich lange Zeit hindurch auf ſeinem Gute alle moͤglichen Raſſen und Spielarten von Tauben, welche er bekommen konnte, und wurde mit reichlichen Zuſendungen aus allen Weltgegenden unterſtuͤtzt. Ferner ließ er ſich in zwei Londoner Taubenklubs aufnehmen, welche die Zuͤchtung der verſchiedenen Taubenformen mit wahrhaft kuͤnſtleri- ſcher Virtuoſitaͤt und unermuͤdlicher Leidenſchaft betreiben. End- lich ſetzte er ſich noch mit Einigen der beruͤhmteſten Taubenliebhaber in Verbindung. So ſtand ihm das reichſte empiriſche Material zur Verfuͤgung. Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 8

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/134>, abgerufen am 17.05.2024.