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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Der Schwanz des Menschen.
Schwänzchen des Menschen (s) aufmerksam zu machen, wel-
ches derselbe mit allen übrigen Wirbelthieren in der ursprünglichen
Anlage theilt. Die Auffindung "geschwänzter Menschen" wurde lange
Zeit von vielen Monisten mit Sehnsucht erwartet, um darauf eine
nähere Verwandtschaft des Menschen mit den übrigen Säugethieren
begründen zu können. Und ebenso hoben ihre dualistischen Gegner
oft mit Stolz hervor, daß der gänzliche Mangel des Schwanzes einen
der wichtigsten körperlichen Unterschiede zwischen dem Menschen und
den Thieren bilde, wobei sie nicht an die vielen schwanzlosen Thiere
dachten, die es wirklich giebt. Nun besitzt aber der Mensch in den
ersten Monaten der Entwickelung ebenso gut einen wirklichen Schwanz,
wie die nächstverwandten schwanzlosen Affen (Orang, Schimpanse,
Gorilla) und wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derselbe aber
bei den Meisten, z. B. beim Hunde (Fig. A, C) im Laufe der Ent-
wickelung immer länger wird, bildet er sich beim Menschen (Fig. B, D)
und bei den ungeschwänzten Säugethieren von einem gewissen Zeit-
punct der Entwickelung an zurück und verwächst zuletzt völlig. Jn-
dessen ist auch beim ausgebildeten Menschen der Rest des Schwanzes
als verkümmertes oder rudimentäres Organ noch in den drei bis fünf
Schwanzwirbeln (Vertebrae coccygeae) zu erkennen, welche das
hintere oder untere Ende der Wirbelsäule bilden (S. 235).

Die meisten Menschen wollen noch gegenwärtig die wichtigste
Folgerung der Descendenztheorie, die paläontologische Entwickelung
des Menschen aus affenähnlichen und weiterhin aus niederen Säuge-
thieren nicht anerkennen, und halten eine solche Umbildung der orga-
nischen Form für unmöglich. Jch frage Sie aber, sind die Erschei-
nungen der individuellen Entwickelung des Menschen, von denen ich
Jhnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunder-
bar? Jst es nicht im höchsten Grade merkwürdig, daß alle Wirbel-
thiere aus den verschiedensten Klassen, Fische, Amphibien, Reptilien,
Vögel und Säugethiere, in den ersten Zeiten ihrer embryonalen Ent-
wickelung gradezu nicht zu unterscheiden sind, und daß selbst viel spä-
ter noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Vögel sich deutlich

Der Schwanz des Menſchen.
Schwaͤnzchen des Menſchen (ſ) aufmerkſam zu machen, wel-
ches derſelbe mit allen uͤbrigen Wirbelthieren in der urſpruͤnglichen
Anlage theilt. Die Auffindung „geſchwaͤnzter Menſchen“ wurde lange
Zeit von vielen Moniſten mit Sehnſucht erwartet, um darauf eine
naͤhere Verwandtſchaft des Menſchen mit den uͤbrigen Saͤugethieren
begruͤnden zu koͤnnen. Und ebenſo hoben ihre dualiſtiſchen Gegner
oft mit Stolz hervor, daß der gaͤnzliche Mangel des Schwanzes einen
der wichtigſten koͤrperlichen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und
den Thieren bilde, wobei ſie nicht an die vielen ſchwanzloſen Thiere
dachten, die es wirklich giebt. Nun beſitzt aber der Menſch in den
erſten Monaten der Entwickelung ebenſo gut einen wirklichen Schwanz,
wie die naͤchſtverwandten ſchwanzloſen Affen (Orang, Schimpanſe,
Gorilla) und wie die Wirbelthiere uͤberhaupt. Waͤhrend derſelbe aber
bei den Meiſten, z. B. beim Hunde (Fig. A, C) im Laufe der Ent-
wickelung immer laͤnger wird, bildet er ſich beim Menſchen (Fig. B, D)
und bei den ungeſchwaͤnzten Saͤugethieren von einem gewiſſen Zeit-
punct der Entwickelung an zuruͤck und verwaͤchſt zuletzt voͤllig. Jn-
deſſen iſt auch beim ausgebildeten Menſchen der Reſt des Schwanzes
als verkuͤmmertes oder rudimentaͤres Organ noch in den drei bis fuͤnf
Schwanzwirbeln (Vertebrae coccygeae) zu erkennen, welche das
hintere oder untere Ende der Wirbelſaͤule bilden (S. 235).

Die meiſten Menſchen wollen noch gegenwaͤrtig die wichtigſte
Folgerung der Deſcendenztheorie, die palaͤontologiſche Entwickelung
des Menſchen aus affenaͤhnlichen und weiterhin aus niederen Saͤuge-
thieren nicht anerkennen, und halten eine ſolche Umbildung der orga-
niſchen Form fuͤr unmoͤglich. Jch frage Sie aber, ſind die Erſchei-
nungen der individuellen Entwickelung des Menſchen, von denen ich
Jhnen hier die Grundzuͤge vorgefuͤhrt habe, etwa weniger wunder-
bar? Jſt es nicht im hoͤchſten Grade merkwuͤrdig, daß alle Wirbel-
thiere aus den verſchiedenſten Klaſſen, Fiſche, Amphibien, Reptilien,
Voͤgel und Saͤugethiere, in den erſten Zeiten ihrer embryonalen Ent-
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ter noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Voͤgel ſich deutlich

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[252/0277] Der Schwanz des Menſchen. Schwaͤnzchen des Menſchen (ſ) aufmerkſam zu machen, wel- ches derſelbe mit allen uͤbrigen Wirbelthieren in der urſpruͤnglichen Anlage theilt. Die Auffindung „geſchwaͤnzter Menſchen“ wurde lange Zeit von vielen Moniſten mit Sehnſucht erwartet, um darauf eine naͤhere Verwandtſchaft des Menſchen mit den uͤbrigen Saͤugethieren begruͤnden zu koͤnnen. Und ebenſo hoben ihre dualiſtiſchen Gegner oft mit Stolz hervor, daß der gaͤnzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigſten koͤrperlichen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den Thieren bilde, wobei ſie nicht an die vielen ſchwanzloſen Thiere dachten, die es wirklich giebt. Nun beſitzt aber der Menſch in den erſten Monaten der Entwickelung ebenſo gut einen wirklichen Schwanz, wie die naͤchſtverwandten ſchwanzloſen Affen (Orang, Schimpanſe, Gorilla) und wie die Wirbelthiere uͤberhaupt. Waͤhrend derſelbe aber bei den Meiſten, z. B. beim Hunde (Fig. A, C) im Laufe der Ent- wickelung immer laͤnger wird, bildet er ſich beim Menſchen (Fig. B, D) und bei den ungeſchwaͤnzten Saͤugethieren von einem gewiſſen Zeit- punct der Entwickelung an zuruͤck und verwaͤchſt zuletzt voͤllig. Jn- deſſen iſt auch beim ausgebildeten Menſchen der Reſt des Schwanzes als verkuͤmmertes oder rudimentaͤres Organ noch in den drei bis fuͤnf Schwanzwirbeln (Vertebrae coccygeae) zu erkennen, welche das hintere oder untere Ende der Wirbelſaͤule bilden (S. 235). Die meiſten Menſchen wollen noch gegenwaͤrtig die wichtigſte Folgerung der Deſcendenztheorie, die palaͤontologiſche Entwickelung des Menſchen aus affenaͤhnlichen und weiterhin aus niederen Saͤuge- thieren nicht anerkennen, und halten eine ſolche Umbildung der orga- niſchen Form fuͤr unmoͤglich. Jch frage Sie aber, ſind die Erſchei- nungen der individuellen Entwickelung des Menſchen, von denen ich Jhnen hier die Grundzuͤge vorgefuͤhrt habe, etwa weniger wunder- bar? Jſt es nicht im hoͤchſten Grade merkwuͤrdig, daß alle Wirbel- thiere aus den verſchiedenſten Klaſſen, Fiſche, Amphibien, Reptilien, Voͤgel und Saͤugethiere, in den erſten Zeiten ihrer embryonalen Ent- wickelung gradezu nicht zu unterſcheiden ſind, und daß ſelbſt viel ſpaͤ- ter noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Voͤgel ſich deutlich

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/277>, abgerufen am 01.06.2024.