Ursächlicher Zusammenhang der Ontogenesis und Phylogenesis.
von den Säugethieren unterscheiden, Hund und Mensch noch beinahe identisch sind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen mit einander vergleicht, und sich fragt, welche von beiden wunder- barer ist, so muß uns die Ontogenie oder die kurze und schnelle Entwickelungsgeschichte des Jndividuums viel räthselhafter er- scheinen, als die Phylogenie oder die lange und langsame Ent- wickelungsgeschichte des Stammes. Denn eine und dieselbe groß- artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im Laufe von vielen tausend Jahren, von der ersteren dagegen im Laufe weniger Monate vollbracht. Offenbar ist diese überaus schnelle und auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogenesis, welche wir jeden Augenblick thatsächlich durch directe Beobachtung feststellen können, an sich viel wunderbarer, viel erstaunlicher, als die entspre- chende, aber viel langsamere und allmählichere Umbildung, welche die lange Vorfahrenkette desselben Jndividuums in der Phylogenesis durchgemacht hat.
Beide Reihen der organischen Entwickelung, die Ontogenesis des Jndividuums, und die Phylogenesis des Stammes, zu welchem das- selbe gehört, stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhange. Jch habe diese Theorie, welche ich für äußerst wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie 4) ausführlich zu begründen versucht. Wie ich dort zeigte, ist die Ontogenesis, oder die Ent- wickelung des Jndividuums, eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung be- dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge- nesis oder der Entwickelung des zugehörigen Stam- mes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Jndividuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110--147, 371).
Jn diesem innigen Zusammenhang der Ontogenie und Phylo- genie erblicke ich einen der wichtigsten und unwiderleglichsten Beweise der Descendenztheorie. Es vermag Niemand diese Erscheinungen zu erklären, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpassungsge- setze zurückgeht; durch diese erst sind sie erklärlich. Ganz besonders
Urſaͤchlicher Zuſammenhang der Ontogeneſis und Phylogeneſis.
von den Saͤugethieren unterſcheiden, Hund und Menſch noch beinahe identiſch ſind? Fuͤrwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen mit einander vergleicht, und ſich fragt, welche von beiden wunder- barer iſt, ſo muß uns die Ontogenie oder die kurze und ſchnelle Entwickelungsgeſchichte des Jndividuums viel raͤthſelhafter er- ſcheinen, als die Phylogenie oder die lange und langſame Ent- wickelungsgeſchichte des Stammes. Denn eine und dieſelbe groß- artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im Laufe von vielen tauſend Jahren, von der erſteren dagegen im Laufe weniger Monate vollbracht. Offenbar iſt dieſe uͤberaus ſchnelle und auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogeneſis, welche wir jeden Augenblick thatſaͤchlich durch directe Beobachtung feſtſtellen koͤnnen, an ſich viel wunderbarer, viel erſtaunlicher, als die entſpre- chende, aber viel langſamere und allmaͤhlichere Umbildung, welche die lange Vorfahrenkette deſſelben Jndividuums in der Phylogeneſis durchgemacht hat.
Beide Reihen der organiſchen Entwickelung, die Ontogeneſis des Jndividuums, und die Phylogeneſis des Stammes, zu welchem daſ- ſelbe gehoͤrt, ſtehen im innigſten urſaͤchlichen Zuſammenhange. Jch habe dieſe Theorie, welche ich fuͤr aͤußerſt wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie 4) ausfuͤhrlich zu begruͤnden verſucht. Wie ich dort zeigte, iſt die Ontogeneſis, oder die Ent- wickelung des Jndividuums, eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung be- dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge- neſis oder der Entwickelung des zugehoͤrigen Stam- mes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Jndividuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110—147, 371).
Jn dieſem innigen Zuſammenhang der Ontogenie und Phylo- genie erblicke ich einen der wichtigſten und unwiderleglichſten Beweiſe der Deſcendenztheorie. Es vermag Niemand dieſe Erſcheinungen zu erklaͤren, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpaſſungsge- ſetze zuruͤckgeht; durch dieſe erſt ſind ſie erklaͤrlich. Ganz beſonders
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Urſaͤchlicher Zuſammenhang der Ontogeneſis und Phylogeneſis.
von den Saͤugethieren unterſcheiden, Hund und Menſch noch beinahe
identiſch ſind? Fuͤrwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen
mit einander vergleicht, und ſich fragt, welche von beiden wunder-
barer iſt, ſo muß uns die Ontogenie oder die kurze und ſchnelle
Entwickelungsgeſchichte des Jndividuums viel raͤthſelhafter er-
ſcheinen, als die Phylogenie oder die lange und langſame Ent-
wickelungsgeſchichte des Stammes. Denn eine und dieſelbe groß-
artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im
Laufe von vielen tauſend Jahren, von der erſteren dagegen im Laufe
weniger Monate vollbracht. Offenbar iſt dieſe uͤberaus ſchnelle und
auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogeneſis, welche
wir jeden Augenblick thatſaͤchlich durch directe Beobachtung feſtſtellen
koͤnnen, an ſich viel wunderbarer, viel erſtaunlicher, als die entſpre-
chende, aber viel langſamere und allmaͤhlichere Umbildung, welche
die lange Vorfahrenkette deſſelben Jndividuums in der Phylogeneſis
durchgemacht hat.
Beide Reihen der organiſchen Entwickelung, die Ontogeneſis des
Jndividuums, und die Phylogeneſis des Stammes, zu welchem daſ-
ſelbe gehoͤrt, ſtehen im innigſten urſaͤchlichen Zuſammenhange. Jch
habe dieſe Theorie, welche ich fuͤr aͤußerſt wichtig halte, im zweiten
Bande meiner generellen Morphologie 4) ausfuͤhrlich zu begruͤnden
verſucht. Wie ich dort zeigte, iſt die Ontogeneſis, oder die Ent-
wickelung des Jndividuums, eine kurze und ſchnelle,
durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung be-
dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge-
neſis oder der Entwickelung des zugehoͤrigen Stam-
mes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden
Jndividuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110—147, 371).
Jn dieſem innigen Zuſammenhang der Ontogenie und Phylo-
genie erblicke ich einen der wichtigſten und unwiderleglichſten Beweiſe
der Deſcendenztheorie. Es vermag Niemand dieſe Erſcheinungen
zu erklaͤren, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpaſſungsge-
ſetze zuruͤckgeht; durch dieſe erſt ſind ſie erklaͤrlich. Ganz beſonders
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/278>, abgerufen am 21.06.2024.
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