Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Ursächlicher Zusammenhang der Ontogenesis und Phylogenesis.
von den Säugethieren unterscheiden, Hund und Mensch noch beinahe
identisch sind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen
mit einander vergleicht, und sich fragt, welche von beiden wunder-
barer ist, so muß uns die Ontogenie oder die kurze und schnelle
Entwickelungsgeschichte des Jndividuums viel räthselhafter er-
scheinen, als die Phylogenie oder die lange und langsame Ent-
wickelungsgeschichte des Stammes. Denn eine und dieselbe groß-
artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im
Laufe von vielen tausend Jahren, von der ersteren dagegen im Laufe
weniger Monate vollbracht. Offenbar ist diese überaus schnelle und
auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogenesis, welche
wir jeden Augenblick thatsächlich durch directe Beobachtung feststellen
können, an sich viel wunderbarer, viel erstaunlicher, als die entspre-
chende, aber viel langsamere und allmählichere Umbildung, welche
die lange Vorfahrenkette desselben Jndividuums in der Phylogenesis
durchgemacht hat.

Beide Reihen der organischen Entwickelung, die Ontogenesis des
Jndividuums, und die Phylogenesis des Stammes, zu welchem das-
selbe gehört, stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhange. Jch
habe diese Theorie, welche ich für äußerst wichtig halte, im zweiten
Bande meiner generellen Morphologie 4) ausführlich zu begründen
versucht. Wie ich dort zeigte, ist die Ontogenesis, oder die Ent-
wickelung des Jndividuums, eine kurze und schnelle,
durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung be-
dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge-
nesis oder der Entwickelung des zugehörigen Stam-
mes,
d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden
Jndividuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110--147, 371).

Jn diesem innigen Zusammenhang der Ontogenie und Phylo-
genie erblicke ich einen der wichtigsten und unwiderleglichsten Beweise
der Descendenztheorie. Es vermag Niemand diese Erscheinungen
zu erklären, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpassungsge-
setze zurückgeht; durch diese erst sind sie erklärlich. Ganz besonders

Urſaͤchlicher Zuſammenhang der Ontogeneſis und Phylogeneſis.
von den Saͤugethieren unterſcheiden, Hund und Menſch noch beinahe
identiſch ſind? Fuͤrwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen
mit einander vergleicht, und ſich fragt, welche von beiden wunder-
barer iſt, ſo muß uns die Ontogenie oder die kurze und ſchnelle
Entwickelungsgeſchichte des Jndividuums viel raͤthſelhafter er-
ſcheinen, als die Phylogenie oder die lange und langſame Ent-
wickelungsgeſchichte des Stammes. Denn eine und dieſelbe groß-
artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im
Laufe von vielen tauſend Jahren, von der erſteren dagegen im Laufe
weniger Monate vollbracht. Offenbar iſt dieſe uͤberaus ſchnelle und
auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogeneſis, welche
wir jeden Augenblick thatſaͤchlich durch directe Beobachtung feſtſtellen
koͤnnen, an ſich viel wunderbarer, viel erſtaunlicher, als die entſpre-
chende, aber viel langſamere und allmaͤhlichere Umbildung, welche
die lange Vorfahrenkette deſſelben Jndividuums in der Phylogeneſis
durchgemacht hat.

Beide Reihen der organiſchen Entwickelung, die Ontogeneſis des
Jndividuums, und die Phylogeneſis des Stammes, zu welchem daſ-
ſelbe gehoͤrt, ſtehen im innigſten urſaͤchlichen Zuſammenhange. Jch
habe dieſe Theorie, welche ich fuͤr aͤußerſt wichtig halte, im zweiten
Bande meiner generellen Morphologie 4) ausfuͤhrlich zu begruͤnden
verſucht. Wie ich dort zeigte, iſt die Ontogeneſis, oder die Ent-
wickelung des Jndividuums, eine kurze und ſchnelle,
durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung be-
dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge-
neſis oder der Entwickelung des zugehoͤrigen Stam-
mes,
d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden
Jndividuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110—147, 371).

Jn dieſem innigen Zuſammenhang der Ontogenie und Phylo-
genie erblicke ich einen der wichtigſten und unwiderleglichſten Beweiſe
der Deſcendenztheorie. Es vermag Niemand dieſe Erſcheinungen
zu erklaͤren, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpaſſungsge-
ſetze zuruͤckgeht; durch dieſe erſt ſind ſie erklaͤrlich. Ganz beſonders

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0278" n="253"/><fw place="top" type="header">Ur&#x017F;a&#x0364;chlicher Zu&#x017F;ammenhang der Ontogene&#x017F;is und Phylogene&#x017F;is.</fw><lb/>
von den Sa&#x0364;ugethieren unter&#x017F;cheiden, Hund und Men&#x017F;ch noch beinahe<lb/>
identi&#x017F;ch &#x017F;ind? Fu&#x0364;rwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen<lb/>
mit einander vergleicht, und &#x017F;ich fragt, welche von beiden wunder-<lb/>
barer i&#x017F;t, &#x017F;o muß uns die <hi rendition="#g">Ontogenie</hi> oder die kurze und &#x017F;chnelle<lb/>
Entwickelungsge&#x017F;chichte des <hi rendition="#g">Jndividuums</hi> viel ra&#x0364;th&#x017F;elhafter er-<lb/>
&#x017F;cheinen, als die <hi rendition="#g">Phylogenie</hi> oder die lange und lang&#x017F;ame Ent-<lb/>
wickelungsge&#x017F;chichte des <hi rendition="#g">Stammes.</hi> Denn eine und die&#x017F;elbe groß-<lb/>
artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im<lb/>
Laufe von vielen tau&#x017F;end Jahren, von der er&#x017F;teren dagegen im Laufe<lb/>
weniger Monate vollbracht. Offenbar i&#x017F;t die&#x017F;e u&#x0364;beraus &#x017F;chnelle und<lb/>
auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogene&#x017F;is, welche<lb/>
wir jeden Augenblick that&#x017F;a&#x0364;chlich durch directe Beobachtung fe&#x017F;t&#x017F;tellen<lb/>
ko&#x0364;nnen, an &#x017F;ich viel wunderbarer, viel er&#x017F;taunlicher, als die ent&#x017F;pre-<lb/>
chende, aber viel lang&#x017F;amere und allma&#x0364;hlichere Umbildung, welche<lb/>
die lange Vorfahrenkette de&#x017F;&#x017F;elben Jndividuums in der Phylogene&#x017F;is<lb/>
durchgemacht hat.</p><lb/>
        <p>Beide Reihen der organi&#x017F;chen Entwickelung, die Ontogene&#x017F;is des<lb/>
Jndividuums, und die Phylogene&#x017F;is des Stammes, zu welchem da&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elbe geho&#x0364;rt, &#x017F;tehen im innig&#x017F;ten ur&#x017F;a&#x0364;chlichen Zu&#x017F;ammenhange. Jch<lb/>
habe die&#x017F;e Theorie, welche ich fu&#x0364;r a&#x0364;ußer&#x017F;t wichtig halte, im zweiten<lb/>
Bande meiner generellen Morphologie <hi rendition="#sup">4</hi>) ausfu&#x0364;hrlich zu begru&#x0364;nden<lb/>
ver&#x017F;ucht. Wie ich dort zeigte, i&#x017F;t <hi rendition="#g">die Ontogene&#x017F;is, oder die Ent-<lb/>
wickelung des Jndividuums, eine kurze und &#x017F;chnelle,<lb/>
durch die Ge&#x017F;etze der Vererbung und Anpa&#x017F;&#x017F;ung be-<lb/>
dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge-<lb/>
ne&#x017F;is oder der Entwickelung des zugeho&#x0364;rigen Stam-<lb/>
mes,</hi> d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden<lb/>
Jndividuums bilden. (Gen. Morph. <hi rendition="#aq">II,</hi> S. 110&#x2014;147, 371).</p><lb/>
        <p>Jn die&#x017F;em innigen Zu&#x017F;ammenhang der Ontogenie und Phylo-<lb/>
genie erblicke ich einen der wichtig&#x017F;ten und unwiderleglich&#x017F;ten Bewei&#x017F;e<lb/>
der De&#x017F;cendenztheorie. Es vermag Niemand die&#x017F;e Er&#x017F;cheinungen<lb/>
zu erkla&#x0364;ren, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpa&#x017F;&#x017F;ungsge-<lb/>
&#x017F;etze zuru&#x0364;ckgeht; durch die&#x017F;e er&#x017F;t &#x017F;ind &#x017F;ie erkla&#x0364;rlich. Ganz be&#x017F;onders<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0278] Urſaͤchlicher Zuſammenhang der Ontogeneſis und Phylogeneſis. von den Saͤugethieren unterſcheiden, Hund und Menſch noch beinahe identiſch ſind? Fuͤrwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen mit einander vergleicht, und ſich fragt, welche von beiden wunder- barer iſt, ſo muß uns die Ontogenie oder die kurze und ſchnelle Entwickelungsgeſchichte des Jndividuums viel raͤthſelhafter er- ſcheinen, als die Phylogenie oder die lange und langſame Ent- wickelungsgeſchichte des Stammes. Denn eine und dieſelbe groß- artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im Laufe von vielen tauſend Jahren, von der erſteren dagegen im Laufe weniger Monate vollbracht. Offenbar iſt dieſe uͤberaus ſchnelle und auffallende Umbildung des Jndividuums in der Ontogeneſis, welche wir jeden Augenblick thatſaͤchlich durch directe Beobachtung feſtſtellen koͤnnen, an ſich viel wunderbarer, viel erſtaunlicher, als die entſpre- chende, aber viel langſamere und allmaͤhlichere Umbildung, welche die lange Vorfahrenkette deſſelben Jndividuums in der Phylogeneſis durchgemacht hat. Beide Reihen der organiſchen Entwickelung, die Ontogeneſis des Jndividuums, und die Phylogeneſis des Stammes, zu welchem daſ- ſelbe gehoͤrt, ſtehen im innigſten urſaͤchlichen Zuſammenhange. Jch habe dieſe Theorie, welche ich fuͤr aͤußerſt wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie 4) ausfuͤhrlich zu begruͤnden verſucht. Wie ich dort zeigte, iſt die Ontogeneſis, oder die Ent- wickelung des Jndividuums, eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung be- dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge- neſis oder der Entwickelung des zugehoͤrigen Stam- mes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Jndividuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110—147, 371). Jn dieſem innigen Zuſammenhang der Ontogenie und Phylo- genie erblicke ich einen der wichtigſten und unwiderleglichſten Beweiſe der Deſcendenztheorie. Es vermag Niemand dieſe Erſcheinungen zu erklaͤren, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpaſſungsge- ſetze zuruͤckgeht; durch dieſe erſt ſind ſie erklaͤrlich. Ganz beſonders

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/278
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/278>, abgerufen am 21.06.2024.